Archiv

Rosamund Lupton: "Lautlose Nacht"
Atemlos durch die arktische Eiswüste

Ein gehörloses Mädchen, das die Erwachsenen klug kommentiert, und eine wagemutige Mutter, die einen Vierzigtonner übers Eis lenkt: Rosamund Luptons neues Buch holt erst Luft, um dann ohne Rücksicht auf Verluste Gas zu geben. Ein Krimi voll klirrender Kälte und fiebriger Spannung.

Von Ingrid Müller-Münch |
    Strommasten stehen entlang einer leeren Straße in Haines, Alaska.
    Kälte, viel Schnee und wenig Menschen: So sieht Alaska in der Vorstellung der 10-jährigen Erzählerin Ruby aus. (dpa)
    "Es ist eisig kalt. Als würde die Luft aus Glassplittern bestehen. Unsere englische Kälte, das sind moppelige Schneemänner und: "Juju, es hat geschneit!", eine nette Kälte irgendwie. Aber die Kälte hier ist fies.
    Dad hat gesagt, man muss zwei Dinge über Alaska wissen: 1. ist es wahnsinnig kalt und 2. ist es superstill, weil es über Tausende von Kilometern nur Schnee und fast keine Menschen gibt.
    So ganz stimmt das mit der Stille nicht, von der Matt seiner 10-jährigen Tochter Ruby erzählt hat. Denn als die Kleine mit ihrer Mutter Yasmin am Flughafen von Fairbanks ankommt, vibriert die Straße vor Autoreifen, rumpeln die Rollkoffer der Leute über den Asphalt, starten und landen die Flieger mit entsprechendem Getöse. Und Ruby erinnert sich, wie sehr Matt, ihr Vater, die Stille liebt und dass er immer zu ihr sagte, sie sei nicht taub, sondern könne Stille hören.
    Mit dieser Szene beginnt Rosamund Luptons Krimi "Lautlose Nacht", in dem sie sich in den Schneeweiten Alaskas verliert. Und der Leser folgt ihr, willig, gebannt, aufgewühlt von der lebensgefährlichen Reise, auf die sich die britische Astrophysikerin Yasmin mit ihrer 10-jährigen Tochter Ruby begibt.
    Unfreiwillig. So war es nicht geplant. Vielmehr sollte Rubys Vater Matt die Beiden in Fairbanks am Flughafen abholen. Matt, der gerade einen Film über die Tierwelt Alaskas dreht. Stattdessen steht da dieser Trooper und behauptet, in dem Ort, in dem sich Matt zuletzt aufhielt, habe es eine verheerende Brandkatastrophe gegeben.
    "Gestern Nachmittag hat ein Flugzeug den Brand bemerkt. Kurz nachdem der Pilot die Meldung gemacht hatte, kam ein Sturm auf. Trotz der extrem schlechten Flugbedingungen haben die Kollegen vom North Slope Borough eine Such- und Rettungsaktion gestartet. Sie haben bis heute in den frühen Morgenstunden gesucht, aber tragischerweise gab es keine Überlebenden."
    Eine Brandkatastrophe ohne Überlebende
    Keine Überlebenden bedeutet: Auch Matt ist tot. So lakonisch jedenfalls überbringt der Polizist Yasmin die Todesnachricht. Doch die schaut ihn verständnislos an. Glaubt ihm kein Wort. Kurz vor ihrem Abflug aus London hatte sie noch einen Anruf ihres Mannes bekommen. Die Verbindung war zwar miserabel gewesen, Beide hatten nicht miteinander sprechen können. Aber es war eindeutig Matts Handy, von dem aus der Anruf kam.
    Bis zu diesem Moment schleicht sich die Geschichte eher behutsam an. Und der Leser, den die Ungeduld packt, könnte hier noch aussteigen. Später geht das nicht mehr. Da rast Yasmin durch die Eiswüste des Nordpols, entschlossen, Matt zu finden. Also begibt sie sich zu einem Sammelplatz der LKW-Fahrer, die bald mit ihren Lastern zu den Ölbohrstationen weiter nördlich aufbrechen werden.
    Mum hat gesagt, wir werden mit einem Lastwagen zu Dad fahren. Jetzt sind wir auf diesem Platz, wo lauter Megamonsterlaster stehen. Ich wette, nachts verwandeln sie sich alle in dunkle Roboter. Es sind Tanklaster, und sie sind so lang wie unsere ganze Straße in London.
    Der einzige, der bereit ist, Mutter und Tochter mit zum Polarkreis zu nehmen, ist Azizi, ein schwerkranker Mann. Mit seinem Vierzigtonner auf fünf Achsen brettern die Drei los in die unfassbare Dunkelheit, auf einer glatten Straße, auf der es kein Halten gibt, kein Ausweichen, kein Bremsen. Rechts und links nichts als Schnee, Weiße, Dunkelheit. Und wer das Fahrzeug verlassen will, den erwarten 42 Grad Minus.
    Dann plötzlich beginnt die eigentliche Katastrophe: An einer einsam gelegenen Raststätte bricht Azizi zusammen. Und während sich die anderen Trucker um ihn kümmern, übernimmt Yasmin das Steuer seines Sattelschleppers, packt ihre Tochter auf den Beifahrersitz, und lenkt - getrieben von einer Welle aus Adrenalin und schierem Wagemut – das schwere Monstrum auf die Piste.
    Truck und Krimi nehmen Fahrt auf
    Von da an nimmt nicht nur der Truck, sondern auch dieser Krimi dermaßen an Fahrt auf, dass man selbst als Leser bei der Lektüre gerne gut angeschnallt wäre, vor allem aber dick und warm eingepackt. Denn während der nun folgenden Rutschpartie heißt es: im Auto bleiben, sich der Geschwindigkeit hingeben, die der Laster weitestgehend selbst bestimmt.
    Doch Yasmin wird immer unruhiger. Über Funk erfährt sie, dass sich ein Sturm zusammenbraut. Aber nicht nur der bedroht sie und ihre Tochter:
    Yasmin sah in den Rückspiegel. In großer Entfernung hinter ihnen schimmerte blaues Scheinwerferlicht. Schon die ganze Zeit. Jemand verfolgte sie. Verlangsamte sein Tempo, wann immer sie es taten. Und auf dem Notebook der kleinen Ruby gingen zeitgleich Fotos von grausam zugerichteten Tieren ein.
    "Lautlose Nacht" - ein wahres Kleinod inmitten des gigantischen Krimiangebots. Ein Krimi, der zunächst Atem holt für die vor ihm liegende strapaziöse Reise. Um dann allerdings Gas zu geben, ohne Rücksicht auf Verluste. Er nimmt Tempo auf, nicht nur im Erzählstrang, auch in der Erzählweise. Anfangs bleibt Yasmin Zeit für Rückblicke auf ihre komplizierte Beziehung zu Matt. Doch je weiter sie gen Norden fährt, desto weniger ist Beschaulichkeit möglich. Yasmins Ausdrucksweise wird präziser, die Umstände zwingen sie dazu. Und auch Ruby, die sich beharrlich weigert zu sprechen, spürt die Gefahr und weiß, irgendwann kann sie sich den Luxus zu schweigen nicht mehr leisten. Kann sich nicht länger nur durch Gebärden mit der Umwelt verständigen, durch das Entschlüsseln der Lippenbewegungen ihres Gegenübers oder mithilfe ihres zu einem Sprachcomputer umgebauten Notebooks.
    Eis und Schnee bestimmen die Spannung
    Zwei unterschiedliche Erzählstränge, die von Mutter und Tochter, treiben das Geschehen voran – ein hervorragendes Stilmittel. Gerade hat man sich an die realitätsnahe Denk- und Sprechweise von Yasmin gewöhnt, funkt Ruby mit ihren Gebärden, ihrem Sprachcomputer dazwischen und wirft einen ganz anderen Ton ein. Flapsiger, lässiger, einfach jugendlich. Ein Wechsel, den die Autorin virtuos beherrscht.
    Ruby ist von Anfang an die wichtigere Erzählerin, diejenige, mit der man sich verbündet. Eine 10-jährige, die selbstbewusst und stur die seltsamen Aktionen der Erwachsenen wahrnimmt und klug genug ist, sie humorvoll zu kommentieren.
    Überraschend an diesem Krimi ist vor allem, wie sehr Eis und Schnee die Spannung bestimmen, wie der Leser dahinschmilzt, angesichts des Fiebers, das ihn bei der Lektüre packt. Selbst die Auflösung des Plots hält das, was dieses Roadmovie in Buchform von Anfang an verspricht: Klirrende Kälte, vor der sich nicht nur eine Familientragödie abspielt, sondern auch eine Umweltkatastrophe von großer Aktualität.
    Rosamund Lupton: "Lautlose Nacht"
    dtv München, 379 Seiten, 14,90 Euro