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Rote Armee Fraktion
40 Jahre nach dem Deutschen Herbst

1977 stürzte die RAF die Bundesrepublik in ihre schwerste Krise. Mit Entführungen wollten die Linksterroristen ihre einsitzenden Rädelsführer freipressen. Doch der Plan scheiterte und die RAF-Häftlinge begingen Selbstmord. Bis heute gibt es "blinde Flecken der RAF", schreibt der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar.

Von Winfried Dolderer | 16.10.2017
    Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde am 05.09.1977 in Köln von RAF-Mitgliedern entführt, drei Polizisten und der Fahrer starben bei der Geiselnahme. Schleyer wurde am 19.10.1977 im Kofferraum eines Autos in der elsäßischen Stadt Mühlhausen ermordet aufgefunden.
    Die RAF hatte Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt. (dpa)
    Wolfgang Kraushaar beginnt mit einer Warnung. Der Leser soll den Titel seines Buches nicht missverstehen. Wenn dort von den "blinden Flecken der RAF" die Rede sei, so nicht in einem kriminologischen Sinne. Zwar gebe es 40 Jahre nach dem Höhepunkt des Terrorismus in der alten Bundesrepublik, der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und der Kaperung einer Lufthansa-Maschine durch ein palästinensisches Kommando im Herbst 1977, noch immer mehr offene Fragen als geklärte Fälle. Kraushaar macht dafür das Schweigekartell der ehemaligen RAF-Mitglieder verantwortlich, aber auch Desinteresse, Schlamperei, Vertuschungsmanöver bis hin zur Aktenvernichtung auf Seiten von Justiz und Ermittlungsbehörden. Es sind indes nicht diese blinden Flecken, die ihn interessieren.
    "Für einen Autor, der als Historiker und Politikwissenschaftler arbeitet, kann es [...] nicht darum gehen, die Rolle von Kriminalkommissaren und Staatsanwälten ein- und damit etwa die unerledigten Fälle selbst übernehmen zu wollen. Worum es stattdessen geht, ist nichts anderes als sich die Defizite in der Analyse, Deutung und Interpretation des RAF-Terrorismus vorzunehmen."
    Schlüsselereignisse und Schlüsselfiguren
    Kraushaar legt keine kohärente Geschichtsdarstellung vor. Er hat kein weiteres Handbuch des linken Terrorismus geschrieben von den Anfängen bis zur Kapitulationserklärung der RAF im Jahr 1998, obwohl von all dem die Rede ist.
    Die fünf Kapitel enthalten Abhandlungen über unterschiedliche Themen und Episoden. Darunter der Besuch des Philosophen Jean Paul Sartre beim RAF-Mitbegründer Andreas Baader im November 1974. Das Schicksal des linken Lehrers Fritz Rodewald, der den Hinweis zur Ergreifung Ulrike Meinhofs geliefert hatte und seither seines Lebens nicht mehr froh wurde. Der Befund, dass in keiner anderen Untergrundorganisation weltweit der Frauenanteil mit knapp 60 Prozent so hoch war wie in der RAF und der "Bewegung 2. Juni". Die Rolle der Strafverteidiger, die entscheidend dazu beitrugen, den Fortbestand der RAF nach der Inhaftierung der Gründergeneration zu gewährleisten. Die religiöse Grundierung des linken Terrorismus als "Mission mit der Waffe".
    So richtet sich der Scheinwerfer auf jeweils einzelne, in der geläufigen Wahrnehmung bisher womöglich nicht hinreichend ausgeleuchtete Aspekte.
    "Wer die Aufmerksamkeit aufbringt, sich den hier vorgelegten Texten zu widmen, der wird wohl nur wenige der in einem kriminalistischen Sinne noch offenen Fragen beantworten können, dafür aber vielleicht einige der Strukturen, Schlüsselereignisse und -figuren besser verstehen."
    Der Verfasser Wolfgang Kraushaar, seit drei Jahrzehnten als Politikwissenschaftler zunächst am Hamburger Institut für Sozialforschung, mittlerweile in der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, zählt zu den namhaftesten Chronisten linker Protestbewegungen im Deutschland der Nachkriegszeit. Er hat zur Geschichte der "Achtundsechziger" und zum linken Terrorismus geforscht.
    Geschichtsbilder gegen den Strich bürsten
    Drei Kapitel des vorliegenden Buches enthalten Aufsätze, die in den Jahren 2008 und 2015 an unterschiedlichen Stellen bereits erschienen sind. Das erklärt einige Wiederholungen, die sich bei der Lektüre finden, und auch, dass manche Thesen aus vergangenen Kontroversen noch geläufig sind. Kraushaar ist ein Autor, der den Auftrag des Historikers, gefällige Geschichtsbilder gegen den Strich zu bürsten, erkennbar ernst nimmt.
    "Die Überzeugung, dass es eine scharf gezogene Grenze zwischen der 68er-Bewegung und dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) gegeben habe, ist immer noch weit verbreitet."
    So beginnt das Kapitel über die Anfänge. Dagegen sieht Kraushaar die Achtundsechziger als das "Konstitutions- beziehungsweise Kräftefeld", aus dem nicht nur die RAF, sondern auch andere linksterroristische Organisationen hervorgegangen seien wie die "Tupamaros West-Berlin", die "Bewegung 2. Juni" und die "Revolutionären Zellen".
    Die Rolle der Studentenbewegung
    Den Begriff der "Stadtguerilla" habe erstmals Rudi Dutschke im deutschen Sprachraum heimisch gemacht. Es ist zwar fraglich, ob Dutschke, der Aktivist der Studentenbewegung und Wortführer des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS, mit der Forderung nach einer "Sabotage- und Verweigerungsguerilla" bereits die spätere RAF vor Augen hatte. Dass er in vagen Visionen einer Militarisierung bis hin zum bewaffneten Aufstand schwelgte, geht indes aus seinen Aufzeichnungen klar hervor.
    Freilich holte sich der Anwalt Horst Mahler eine Abfuhr, als er im Frühjahr 1970 Dutschke für die RAF werben wollte. Kraushaar sieht darin allerdings keine Abkehr Dutschkes von seinen Guerilla-Ideen. Vielmehr habe er dem Konzept einer marxistisch-leninistischen Kaderorganisation, das Mahler vorschwebte, wenig abgewinnen konnte.
    "Anders als allgemein angenommen, stammen [...], was die Theorien und Ideologien anbetrifft, einige der wichtigsten Denkfiguren der späteren Untergrund-Gruppierungen aus dem Arsenal einiger führender SDS-Mitglieder, insbesondere von Rudi Dutschke."
    Wenig bleibt in Kraushaars Darstellung auch vom antifaschistischen Selbstverständnis übrig, das die RAF in ihrer letzten Erklärung 1998 noch einmal bombastisch zu Protokoll gab:
    "Die RAF hat nach dem Nazi-Faschismus mit diesen deutschen Traditionen gebrochen und ihnen jegliche Zustimmung entzogen."
    Von linksradikal bis neofaschistisch
    Kraushaar weist darauf hin, dass die Journalistin und spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof 1965 in einem Zeitschriftenartikel den Luftangriff auf Dresden mit den Verbrechen der Nazis gleichgesetzt hatte und später fordere, das deutsche Volk vom Faschismus freizusprechen. Ähnliche Gedanken fanden sich von Anfang an bei Horst Mahler, in dessen Werdegang vom RAF-Mitbegründer zum Holocaust-Leugner Kraushaar eine stringente Logik sieht. Antiamerikanismus, Antizionismus und Antiliberalismus seien die Bindeglieder zwischen Mahlers linksradikaler Vergangenheit und neofaschistischer Gegenwart.
    Dass sie vor 40 Jahren die Bundesrepublik in die schwerste Staatskrise ihrer Geschichte stürzte, macht die historische Bedeutung der RAF aus. Kraushaars Darstellung wirft auf die alte Geschichte neue erhellende Schlaglichter.
    Wolfgang Kraushaar: "Die blinden Flecken der RAF"
    Klett-Cotta, 423 Seiten, 25 Euro.