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Rückzug aus Gaza - Präsidentschaftswahlen in Palästina

Eine Delegation aus dem palästinensischen Dorf Beit Sahour macht ihre Aufwartung am Grab Yassir Arafats. Das war Mitte November, in Ramallah.

Von Christina Janssen |
    Seitdem ist vieles möglich geworden, woran keiner mehr glaubte: Die Palästinenser wählen am kommenden Sonntag einen neuen Präsidenten; das befürchtete Chaos in den besetzten Gebieten blieb aus. Israels Premier Scharon zeigt sich gesprächsbereit und will den Rückzug aus dem Gaza-Streifen mit der neuen palästinensischen Führung abstimmen. Die Zeichen stehen auf Wandel und Annäherung. Trotz der immer noch täglichen Gewalt, die auch heute wieder die Region überschattet. Beide Seiten wissen das. Aber können und wollen sie die Chance auch nutzen?

    o.k. Erste Regel: Jeder muss den Sellerie probieren. ...

    Ein Besuch in Gush Katif, dem israelischen Siedlungsblock an der Mittelmeerküste im südlichen Gaza-Streifen.

    Und damit Sie sehen, dass der sauber ist, esse ich ihn auch selbst...

    Anita Tucker steht in ihrem Gewächshaus inmitten saftig grüner Selleriebeete. Beherzt packt sie ein dickes Büschel und reißt es aus dem sandigen Boden.

    Da sind keine Insektizide dran... also bitteschön... probieren Sie....ein kleiner Bissen reicht schon... Wenn Sie keinen Sellerie mögen, dann schmeißen Sie ihn einfach weg...

    Blaue Schirmmütze, blau-weiß karierte Bluse, ein gutmütiges Lachen - Anita Tucker ist 58 Jahre alt und hat ihr halbes Leben in Gush Katif verbracht. Gush Katif, das heißt "Erntegegend". Und geerntet wird hier reichlich: Obst, Gemüse, Kräuter und Schnittblumen aus hochmodernen Gewächshäusern - das meiste für den Export. Anita Tucker baut koscheren Sellerie für orthodoxe Juden in Israel und Europa an.

    Der ist insektenfrei. Im koscheren Essen dürfen keine Insekten drin sein. Jede Woche kommen Leute vom Rabbinat vorbei, um das zu kontrollieren. Und manchmal landet ein ganzes Gewächshaus auf dem Müll.

    Anita Tucker erzählt so engagiert, als wolle sie am liebsten vergessen, dass auf der Welt auch andere Dinge als Sellerie von Bedeutung sein könnten. Doch der Weg vom Stangengemüse zur Politik ist nicht weit. Ihre liebevoll gehegten Beete soll Anita Tucker aufgeben. Gut 8000 Siedler leben im Gaza-Streifen inmitten von 1,4 Millionen Palästinensern. Nach dem Willen von Ariel Scharons sollen sie ihre Dörfer noch in diesem Jahr räumen.
    Wir sind hierher gekommen, da waren hier nur leere Sanddünen. Sonst nichts. Keine Fliegen, keine Vögel, kein Gras, keine Insekten. Nichts. 1976 war das. Und meine Kinder sind die Sanddünen runtergerutscht, sie waren damals drei, vier Jahre alt; und sie haben das Meer gesehen, und keiner wollte mehr gehen.

    Daran hat sich bis heute nichts geändert. Warum auch? Schließlich ist es kein anderer als Yitzhak Rabin, dem Anita Tucker und viele andere ihr Dasein als Siedler verdanken. Als Ministerpräsident (1974-77) schickte der spätere Friedensnobelpreisträger in den 70er Jahren Einwandererfamilien nach Gaza, um das Land urbar zu machen.

    Und schauen Sie her, sagt Anita Tucker mit blitzenden Augen: Wir haben aus der Einöde eine blühende Landschaft gemacht - mit Gottes Hilfe.

    Von Endzeitstimmung ist in Gush Katif denn auch nichts zu spüren. Das Geschäft läuft gut. Die Sielder-Dörfer bieten alles, was man zum Leben braucht: Drei große Synagogen gibt es allein im Hauptort Neve Dekalim; Schulen; Kindergärten, Supermärkte. Kriminalität ist hier ein Fremdwort.

    Auf den sandigen Pisten zwischen den Gewächshäusern kurven Traktoren umher. Rund 6000 Hilfsarbeiter sind hier beschäftigt. Früher waren das Palästinenser aus den umliegenden Dörfern. Heute sind viele Thailänder oder Nepalesen darunter. Denn seit dem Ausbruch der Zweiten Intifada vor vier Jahren haben viele Siedler ihr palästinensisches Personal entlassen - aus Angst vor Attentaten. Doch zur Zeit flößen die Palästinenser den Siedlern deutlich weniger Angst ein als der Premierminister und sein Abzugsplan. Liran Sternberg, Sprecher der Siedler in Gush Katif, von Anita Tucker und all den anderen:

    Wenn Scharon ganz Israel aufs Spiel setzen will, dann werde ich dagegen kämpfen. Wir wollen diesen desaströsen Plan verhindern, um Israel zu retten. Und nachdem der Friedensprozess zusammengebrochen und am 11. September in den Twin Towers zerschellt ist, kann man wohl sagen: nicht nur Israel, sondern die ganze Welt.

    Die Welt retten, davon ist in Gush Katif häufig die Rede. Die Menschen hier empfinden ihr Leben als Mission.

    Das ist der Punkt, an dem Journalisten immer die Augen rollen und denken – oh je, noch so ein religiöser Spinner... Aber was soll’s... Ich tu's trotzdem. Ich glaube, dass es einen Sinn hat, dass ich hier bin. In der Bibel steht, dass Gott dieses Land hier dem Stamm Juda gegeben hat. Ich glaube, dass ich hierher gehöre.
    Der Siedler Moshe Saperstein weiß genau, dass dieses Credo unangenehme Fragen provoziert: Ist es nicht der eigene Fundamentalismus, der den Hass schürt? Wäre der Frieden nicht zum Greifen nah, wenn die Siedler einfach verschwänden? Moshe Sapersteins Antwort findet sich im Abstellraum:

    Warten Sie, ich möchte Ihnen eben etwas zeigen ...

    Der 64 Jahre alte Rentner schleppt ein schwarzes Metallgebilde herbei. Der zerbeulte Schaft einer Kassam-Rakete.

    Dieses nette Spielzeug hier, das ist vor circa zwei Wochen in unseren Garten gefallen. Ich war gerade dabei, die Wäsche aufzuhängen.

    Wenn die noch intakt wäre, dann wäre sie so groß wie Sie, sagt Saperstein. Er deutet auf die gelben arabischen Schriftzüge, mit denen seine palästinensischen Nachbarn aus Khan Junis die Rakete verziert haben:

    Zuerst dachte ich, das heißt Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Moshe! Aber ich hatte ja nicht Geburtstag. Nein. Da drauf steht "Al Quds" – Jerusalem. O.k.? Also, wer dumm genug ist, zu glauben, dass der Rückzug aus Gaza den Frieden bringen wird, muss eines verstehen: Das Ziel der Leute, die hier auf uns schießen, ist Jerusalem. Und Jerusalem steht für ganz Israel. Ein hübsches politisches Statement...

    4700 Raketen und Granaten sind in den letzten vier Jahren in der Region Gush Katif eingeschlagen, durchschnittlich vier pro Tag. Und trotzdem hat es bislang nur zwei Tote gegeben und einige schwer verletzte Jugendliche. Glück, sagen die einen. Ein Wunder, meint Moshe Saperstein. Eines von vielen in seinem Leben: Im Yom Kippur-Krieg explodierte neben ihm eine Rakete. Er verlor nur seine rechte Hand. Vor drei Jahren lauerte ihm auf einer Siedlerstraße ein Heckenschütze auf. Vier Kugeln trafen ihn, ein ganze Salve zersiebte sein Auto. Seitdem ist Sapersteins linke Hand verstümmelt. Aber er hat überlebt. Auch das ein Wunder, glaubt der Rentner. Und selbst wenn ihm das Wort Gott nicht über die Lippen geht - es ist völlig klar, was er meint, wenn er sagt: Der Rückzug aus Gaza wird nicht kommen...

    In Gaza-Stadt, keine 30 Kilometer von Gush Katif entfernt, ist der Wunderglaube der Wut gewichen. Kaum ein Palästinenser kommt mehr aus dem Gaza-Streifen raus oder rein. Die Welt endet am israelischen Checkpoint Eres. Von dort aus holpert das Taxi über eine Schlaglochpiste in Richtung Innenstadt. Der lokale Radiosender spielt traditionelle palästinensische Musik, der Liedtext ist mit politischen Parolen angereichert:

    "Palästinenser, geht Euren Weg! Dann werdet ihr die Gewinner sein und Euer Land und Euer Recht bekommen", scheppert es aus den Lautsprechern. Agitprop kommt gut an in diesen Zeiten: Zwei Drittel der Menschen im Gazastreifen sind ohne Arbeit. Jedes vierte Kind leidet an Unterernährung, sagt die US-Organisation USAID.

    Der Markt in Dschabalia Camp, jener Flüchtlingssiedlung am Rande von Gaza Stadt, in der die israelische Armee immer wieder Jagd auf Terroristen macht. Lautstark unterbreiten die Händler ihre Angebote - Tomaten, Zwiebeln, Eier, Berge billiger Schuhe, alles für ein paar Schekel. Frauen, alle mit Kopftuch, drängen sich zwischen Kisten und Karren; Kinder mit verschmierten Mündern kauen an kleinen Falaffelbällchen.

    Klar, wir sind einverstanden mit dem Gaza-Abzug, meint dieser Mann. Wir tun alles, damit es funktioniert.

    Nein, das darfst Du so nicht sagen, schimpft ein zweiter. Der Abzug muss wirklich mit uns koordiniert werden, und wir brauchen wieder Jobs in Israel. Sonst wird das hier ein Gefängnis!

    Die Erwartungen an den neuen palästinensischen Präsidenten sind groß. Am Sonntag wird gewählt. Aller Voraussicht nach wird Mahmud Abbas, den die meisten Landsleute beim Zweitnamen Abu Mazen nennen, das Rennen machen. Doch gleichgültig, wer gewinnt, sagen die Leute auf der Straße: Hauptsache der neue Präsident macht nicht weiter wie der alte.

    Es geht nicht darum, ob wir jetzt Abu Mazen oder Bargouti als Präsidenten bekommen. Die Frage ist nicht, ob wir einen Militanten, einen Arzt oder einen Politiker kriegen. Die Frage ist ob der neue Präsident den Leuten, die hier keine Häuser mehr haben, ob er wirklich hilft.

    Ich weiß nicht, wer der neue Präsident sein wird. Ich hoffe nur, dass es jemand mit gesundem Menschenverstand sein wird, der das Beste für das Volk will und nicht für sich selbst.

    Die Kritik an Arafat ist nicht zu überhören. Auch Salah Abdel Shafi hofft auf einen Neuanfang. Er ist Direktor des Gaza Community Mental Health Center, einer Hilfs-Organisation. Sie hat im ganzen Gaza-Streifen ein Netzwerk aufgebaut. In einer Studie haben Abdel Shafi und seine 200 Kollegen Kinder über ihre Situation befragt:

    24 Prozent haben geantwortet, ich möchte Märtyrer werden. Weil der Attentäter repräsentiert jetzt Macht. Das sind diejenigen, die den Feinden weh tun können. Wir haben es mit einer ganzen Generation zu tun, die sehr stark radikalisiert ist, psychisch. Sie sehen keinen Ausweg - der Ausweg ist der Tod. Und Revanche.

    Tun kann man da nur wenig, meint Salah Abdel Shafi, selbst Vater zweier Kinder. Wirklich besser würde die Situation erst dann, wenn es wirtschaftlich bergauf ginge - nach dem Gaza Abzug

    Das kann die Situation vielleicht entschärfen, wird Problem aber nicht grundsätzlich lösen. Was passiert nach Abzug? Bleibt Gaza geschlossen? Die Weltbank hat eine Studie veröffentlicht: Wenn Gaza abgeschottet bleibt, gibt es keinen wirtschaftlichen Aufschwung.

    Doch das ist nicht allein Sache der Israelis. Die neue palästinensische Führung muss die Lage in Gaza selbst unter Kontrolle bekommen, die zerstrittenen Lager einen, Sicherheit schaffen, funktionierende Institutionen aufbauen. Ob Abu Mazen dafür der richtige Mann ist, das kann hier und heute niemand beantworten.

    Er hat weniger Charisma, weniger Popularität, und er ist medienscheu. Das ist ein Problem! Aber er geht sehr vorsichtig mit der Sache um. Erstens: Er wird die Wahlen abwarten. Die Legitimation braucht er. Zweitens, da sind so viele rivalisierende Kräfte innerhalb der Behörden. Also will er eine Integrationsfigur spielen.

    Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass es ihm gelingen könnte: Die verschiedenen politischen Kräfte sprechen miteinander, signalisieren Kompromissbereitschaft. Selbst die islamistische Hamas geht - für ihre Verhältnisse - auf Schmusekurs:

    Wir haben natürlich ein paar Differenzen mit Abu Mazen. Zum Beispiel, was den Oslo-Prozess betrifft. Andererseits denken wir, er ist ein angenehmer, guter Gesprächspartner.

    Streicheleinheiten für Abu Mazen? Eine derart weichgespülte Hamas wäre zu Zeiten ihrer historischen Führer wie Scheich Yassin oder Rantissi undenkbar gewesen. Die neue Generation zeigt sich dagegen halbwegs pragmatisch. Sami Abu Zahri, Sprecher der Hamas in Gaza ist ein junger Mensch mit weichen, runden Gesichtszügen, Vollbart und freundlich leiser Stimme. Zwar zitiert er all die Standpunkte, die er als Hamas-Mann vertreten muss:

    Wir lehnen Israel als Staat ab, wir fordern ganz Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer, das sind markige Sprüche. Doch im gleichen Atemzug spricht Abu Zahri von Waffenstillstand, von Übergangslösungen und davon, dass Frauen als Ministerinnen auch in einer Hamas-Regierung willkommen wären... Ließe sich die Hamas gar domestizieren?

    Ich glaube, die neue Führung will das. Und auf lange Sicht die Hamas hat keine andere Wahl, als sich zu einer pol. Partei zu verwandeln. Natürlich, Hamas manövriert momentan. Die haben Popularität, sind militärisch stark. Aber sie wissen, politisch die Zeit ist gegen sie: Bush hat gewonnen. Die Finanzquellen werden immer weniger, der Druck auf Iran und Syrien verstärkt sich. Auch auf die Golfstaaten, das sind alles Finanzierungsquellen von Hamas. Und die Tatsache, dass sie intensiv mit Abu Mazen verhandeln, zeigt, dass sie die neue Situation verstehen.

    Anita Tucker will von alledem nichts wissen: Eine "neue Situation" gibt es für sie nicht. Sie kämpft dafür, dass alles beim alten bleibt - und dafür, dass die Siedler aus Gush Katif unbehelligt da bleiben können, wo sie sind: im Lande Isaaks und Jakobs. Einen Frieden mit den arabischen Nachbarn, einen eigenen Staat für die Palästinenser, das ist für sie - zumindest derzeit - undenkbar:

    Man muss doch nur eine islamische Homepage öffnen, und lesen, was da steht: Wir wollen die Welt von den Ungläubigen befreien. Mensch, liest das denn keiner außer mir?! Terror hat nichts mit Armut zu tun. Arafat und seine Leute waren auch nicht arm. Warum ignorieren das alle?! Das ist die Basis für den Weltterror hier. Wacht endlich auf, Leute!

    Ariel Scharon steht mit seinem Abzugsplan enorm unter Druck: nicht nur die Siedler leisten Widerstand, Kritik kommt auch aus den Reihen seines Likud. Heute erst hat der Premierminister in der Knesset, dem israelischen Parlament, ein Misstrauensvotum überstanden. Scharons Gegenspieler auf der palästinensischen Seite Präsidentschaftskandidat, Mahmud Abbas, schlägt im Wahlkampf immer wieder schrille Töne an, wenn er zum Beispiel Israel als "zionistischen Feind" anprangert - auch dies heute, nachdem die Israelische Armee im Gazastreifen sieben Palästinenser getötet hat. Und dennoch, die historische Chance ist da, meint auch Tommy Lapid, Vorsitzender der säkularen Shinui-Partei:

    Was Scharon tut, wird nicht ausreichend gewürdigt. Wenn jemand, der mehr als jeder andere für den Siedlungsbau verantwortlich ist, sich jetzt gegen die Siedler wendet, weil er glaubt, dass das der einzige Weg zum Frieden ist, und dann beschuldigt man ihn, dass er den falschen Weg geht und seine Regierung aufs Spiel setzt, nur um aus Gaza abzuziehen, und dann die Westbank zu behalten - das ist einfach Schwachsinn! Wenn der Gaza-Rückzug irgend etwas bewirkt, dann dass eine Dynamik entsteht, auch aus anderen Gebieten abzuziehen - und nicht das Gegenteil.