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Rumänien auf Leipziger Buchmesse
"Unsere Utopie ist die Normalität"

Viele rumänische Schriftsteller und Intellektuelle verbindet eine Hassliebe mit ihrem Land. Sie kritisieren vehement die Lebensverhältnisse und haben doch die leise Hoffnung auf Besserung noch nicht gänzlich aufgegeben.

Von Holger Heimann | 08.03.2018
    Ein Schild in einer Filiale der Buchhandlung "Humanitas" in Bukarest.
    Ansicht einer Buchhandlung in Rumänien, dem Gastland der Leipziger Buchmesse 2018 (picture alliance / Birgit Zimmermann)
    Im Zentrum von Bukarest ragt eine weiße schlanke Marmorsäule zum Himmel empor. Auf halber Höhe etwa durchstößt sie ein dichtes Metallgeflecht. Die Metaphorik des Revolutionsdenkmals ist simpel: Ein Land hat sich befreit vom Korsett der kommunistischen Herrschaft und strebt einer lichten Zukunft entgegen. Aber so einfach sind die Dinge nicht in Rumänien. Das Monument ist wenig beliebt unter der Bevölkerung und wird gern als "Kartoffel am Spieß" verspottet. Die Ceaușescu-Diktatur ist zwar Vergangenheit, aber die Versprechen der Revolution wurden nur zum Teil erfüllt. Der berühmteste lebende Schriftsteller des Landes, Mircea Cǎrtǎrescu, beschreibt die rumänische Gegenwart als eine permanente Herausforderung. Mircea Cǎrtǎrescu:
    "Rumänien gehört zu den Ländern, wo man sich jeden Tag fragt, ob es sich weiterhin lohnt, hier zu bleiben oder ob man gehen muss. Alle meine Freunde und Bekannten stellen sich diese Frage ständig. Aber Rumänien ist nicht nur ein Land, in dem es oft unangenehm ist zu leben, es ist auch ein interessantes Land, ein Land in dem man sich nie langweilt, wo man von Erniedrigung und Beleidigung in Erniedrigung und Beleidigung gerät. Wo man jeden Tag Dingen begegnet, die für einen satirischen Autor ein gefundenes Fressen wären."
    Endemische Bestechlichkeit
    Mircea Cǎrtǎrescu hat Politiker seines Landes in Zeitungsartikeln scharf attackiert. Diese haben zurückgeschlagen und ihn mit absurden Vorwürfen überzogen. Der Autor ist zurückhaltender geworden, seit drei Jahren hat er keine politischen Texte mehr verfasst. Doch das heißt nicht, dass er sich jeglichen Kommentars enthält. Eine endemische Bestechlichkeit ist für Cǎrtǎrescu Erbe der langen osmanischen und der kürzeren kommunistischen Herrschaft – mithin tief verwurzelt in der Tradition des Landes. Cǎrtǎrescu:
    "Ganz bestimmt kann man nicht innerhalb einer Generation von dieser allgemein herrschenden Korruption zur Herrschaft des Rechts übergehen. Aber man kann einen ständigen Druck ausüben gegenüber dem alten Brauch. Das ist die Essenz dessen, was in Rumänien heute geschieht. Wenn die Justiz unabhängig bleibt, können wir hoffen, dass wir die politische Auseinandersetzung bestehen. Wenn die Politik es jedoch schafft, sich die Justiz zu unterwerfen werden wir der Kleptokratie nicht entkommen. Kürzlich hat einer der Chefideologen der Regierungsparteien eine verblüffende Bemerkung gemacht, die das bestehende Dschungelgesetz sichtbar macht. Ein Journalist wollte wissen, warum es im Parlament und in der politischen Verwaltung verurteilte Straftäter gibt. Der Mann des Machtapparats hat geantwortet: "Weil wir das können." Das halte ich für die Position eines Neonazis."
    Die freche Selbstgefälligkeit und Ignoranz vieler Politiker hat Auswirkungen auf die Stimmung im Land. Überall macht sich Fatalismus breit. Wenn man in Rumänien viel erwartet, wird man tief enttäuscht, heißt es häufiger. Viele Intellektuelle, die sich nach dem Sturz des kommunistischen Systems in der Politik engagierten, haben sich wieder zurückgezogen. Zu ihnen gehört auch Andrei Pleșu. Der Philosoph war von 1997 bis 1999 Außenminister Rumäniens. Aber er hat rasch gemerkt, dass der Job nicht der richtige für ihn ist. "Ich fand das schlicht langweilig", sagt er lapidar. Nach zwei Jahren ist er zurückgekehrt zu seinem eigentlichen Metier. Sein Arbeitsplatz ist das New Europe College, ein Wissenschaftsinstitut, das er 1994 mitbegründet hat. Doch ein Rückzug in den Elfenbeinturm der Gelehrsamkeit ist die Besinnung auf die Forschung nicht. Pleșu ist ein aufmerksamer Beobachter der Entwicklung in Rumänien geblieben. Andrei Pleșu:
    "Die Opposition ist schwach. Es gibt Proteste auf der Straße, aber die Proteste sind nur in einem normalen Land wirksam, wenn die Regierenden ein Ohr dafür haben. Ich bin in einem Moment, wo ich ziemlich deprimiert bin. Aber glücklicherweise können wir noch an der Leipziger Messe teilnehmen. Das heißt, die Kultur funktioniert noch, irgendwie. Das hat auch vor der Wende funktioniert. Man hat bei uns von Resistenz durch Kultur gesprochen. Ich bin nicht total einverstanden damit. Denn für mich ist Resistenz offensiver. Aber überleben durch Kultur – das schon."
    Eine Generation, die sich verloren fühlt
    Anfang des Jahres protestierten in Bukarest abermals Hunderttausende gegen die eigene Regierung, die auf dreiste Art versuchte, die strengen Antikorruptionsgesetze im Land auszuhebeln. Doch noch größer ist die Zahl der Rumänen, die nicht auf rasche Veränderungen in ihrem Land setzen. Vier Millionen Menschen sind in den letzten Jahren ausgewandert, ein Fünftel der Bevölkerung des Landes. Sie kehren nicht nur einer zynischen Machtelite den Rücken, viele entscheiden sich für ein Leben im Ausland, weil es ihnen mehr Chancen bietet. Zwar wächst die Wirtschaft in Rumänien – zuletzt sogar schneller als in China. Aber der Lebensstandard liegt weiterhin deutlich hinter dem europäischen Durchschnitt. Für viele Schriftsteller ist die Situation besonders prekär. Lavinia Branişte, die vor zwölf Jahren mit einem Gedichtband debütiert hat, ist eine produktive Autorin. Sie hat Romane, Erzählungen und Kinderbücher geschrieben, außerdem übersetzt sie aus dem Englischen. Aber es reicht trotzdem nicht. Entsprechend groß ist ihre Verärgerung. Lavinia Branişte:
    "Man braucht unbedingt einen Job oder jemanden aus der Familie, der einen unterstützt, oder einen anderen Sponsor. Ich bekomme seit Jahren Geld von meiner Mutter, die in Spanien lebt. Das ist natürlich nicht gerade ideal. Vielleicht kann ich einmal selbst für mich sorgen, wenn ich 60 Jahre alt bin. Ich überlege ständig, womit ich Geld verdienen könnte. Aber ich brauche Zeit zum Schreiben. Ich habe nie darüber nachgedacht, das Schreiben aufzugeben."
    Braniştes jetzt ins Deutsche übersetzter Roman "Null Komma Irgendwas" wurde in Rumänien zu einem Erfolg. Das Buch über eine junge, orientierungslose Frau hat offenbar die Stimmung einer Generation getroffen, die sich verloren fühlt. 2000 Exemplare konnte Polirom, der führende literarische Verlag im Land, an die Leser bringen. Für rumänische Verhältnisse ist das eine stolze Zahl. Nach der Wirtschaftskrise von 2008 sind die Auflagen drastisch gesunken, der Buchmarkt erholt sich davon nur langsam. Mehr als 1000 Exemplare werden selten von einem literarischen Titel verkauft, lediglich bei Übersetzungen vor allem aus dem Englischen ist es anders. Lavinia Braniştes Leben hat sich trotzdem nicht verändert. Obwohl das 2014 im Original erschienene Buch sie bekannter gemacht hat, sind ihre Einnahmen weiterhin bescheiden. 2000 Lei, also 430 Euro, so erklärt die Autorin, habe sie bis heute mit dem Roman verdient. Es sei das absolute Minimum, um einen Monat lang über die Runden zu kommen. Sie rechnet vor. Branişte:
    "Ich müsste also mindestens 2000 Exemplare pro Monat verkaufen. Aber es ist ein freier Markt. Die Verleger können uns so geringe Honorare anbieten, wie sie wollen. Man kann das akzeptieren oder nicht. Sie gehen davon aus, dass man froh und dankbar ist, den eigenen Namen auf dem Buchcover zu sehen und sich vom Ruhm ernährt. Wir bekommen von den Verlagen keine Vorschüsse und nur einen sehr kleinen Anteil vom Verkaufspreis des Buches. Sicher, jeder Autor erhält Abrechnungen nach dem ersten Jahr. Aber man weiß nicht, ob diese tatsächlich stimmen, ob der Verlag wirklich 100 Exemplare verkauft hat oder nicht doch 1000. Es gibt keine Möglichkeit, das zu kontrollieren. Einem meiner Verlage traue ich, dem anderen nicht."
    Schwierigkeiten der Verlage
    Doch für die Verlage selbst ist es gleichsam schwierig zu bestehen. Auf 60 Millionen Euro pro Jahr wird der Gesamtumsatz auf dem rumänischen Buchmarkt derzeit geschätzt – das ist weniger als der Jahresumsatz eines Verlages wie Rowohlt. Rumäniens Wirtschaftskraft liegt zwar auch in anderen Bereichen deutlich hinter der reicher europäischer Länder. Die Deutschen verdienen im Durchschnitt fünfmal so viel wie die Menschen in Rumänien. Trotzdem ist der rumänische Buchmarkt – auch im Vergleich zu Nachbarländern wie Ungarn – eher klein. Die Rumänen sind keine begeisterten Leser. Bogdan-Alexandru Stǎnescu, der Cheflektor von Polirom, glaubt, dass es dafür mehr als eine Ursache gibt. Alexandru Stǎnescu:
    "Es ist ein Mix von Gründen. Zum einen wurde das landesweite Netz von Buchfilialen nach 1989 zerstört. Sicher, es gibt noch Buchläden in den großen Städten. Allein 70 Prozent der Buchverkäufe entfallen auf Bukarest, dann kommen Städte wie Cluj, Constanța, Iaşi, Braşov. Aber das ist es, auf dem Land existieren keine Buchhandlungen mehr. Das heißt, es gibt dort auch keine Leserschaft. Der zweite Grund ist die hohe Besteuerung durch die verschiedenen Regierungen. Wenn jemand aus der Mittelschicht nur 10 Euro in der Woche für Unterhaltung erübrigen kann, wofür gibt er sie dann aus? Geht er ins Kino, kauft er sich eine Platte oder ein Buch? Schließlich wäre über die Schulen zu sprechen. Der Unterricht hat sich nach 1989 permanent verschlechtert. Es gab wahrscheinlich zehn verschiedene zuständige Minister seither. Jeder hat mit großen Worten grundsätzliche Veränderungen angekündigt. Aber unser Bildungssystem ist armselig, es ermuntert nicht zum Lesen."
    Wer im Gefängnis Bücher schreibt, wird früher entlassen
    Besserung ist nicht in Sicht. Unter den Menschen, die das Land verlassen sind viele Hochqualifizierte – auch Lehrer. Sie reißen Lücken, die nicht rasch zu schließen sind. Die immer wieder wechselnden Regierungen aber scheinen die Misere letztlich einfach hinzunehmen. Entscheidende Veränderungen bringen sie kaum auf den Weg. Ganz und gar untätig ist die Politik trotzdem nicht. Sie ermuntert zwar nicht zum Lesen, wohl aber zum Schreiben. Der junge Präsident des Verlegerverbandes Mihai Mitricǎ klärt vor erstaunten Zuhörern über eine sonderbare Regelung auf. Mihai Mitricǎ:
    "Wir haben ein Gesetz, das Häftlingen eine Verminderung der Haftstrafe um 20 oder 30 Tage garantiert, wenn sie ein Buch schreiben, ein wissenschaftliches Werk. Das war ein großer Skandal vor drei Jahren und ist es immer noch. All die Tycoons, die im Gefängnis saßen, wurden plötzlich von der Muse geküsst und schrieben wie wild drauflos. Es gab auch große, renommierte Verlagshäuser, die diese Bucher publiziert haben, da sie ordentlich daran verdienen konnten. Das rumänische Parlament ist seit Jahren sehr sehr freundlich zu den Leuten, die hinter Gittern sitzen. Denn es könnte ja eines Tages so sein, dass man die Seiten tauscht. Sie offerieren den Häftlingen mithin die besten Bedingungen, um so früh wie möglich entlassen zu werden. Sie bereiten so die Zukunft vor."
    Es ist eine andere Zukunft als die, von der Schriftsteller wie Lavinia Branişte und Mircea Cǎrtǎrescu, der Philosoph Andrei Pleșu und der Verlegerpräsident Mihai Mitricǎ träumen. Noch ist nicht ausgemacht, welchen Weg Rumänien letztlich einschlägt. "Unsere Utopie ist die Normalität", sagt Pleșu. In Bukarest demonstrieren dafür noch immer Hunderttausende.
    Lavinia Branişte: "Null Komma Irgendwas"
    Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke
    Mikrotext Verlag, 288 Seiten, 21,99 Euro
    Mircea Cǎrtǎrescus neuer, umfangreicher Roman "Solenoid" wird gerade von Ernest Wichner übersetzt und soll im Herbst 2019 bei Zsolnay auf Deutsch erscheinen