Archiv

Rundfunkgeschichten von Flüchtlingen
Noch viele Schätze im Archiv

Unter dem Titel "Rundfunkgeschichten von Flucht und Vertreibung" diskutierten in Frankfurt Historiker mit Rundfunkarchivaren. Eine Erkenntnis: Nach dem Krieg standen Flüchtlingsverbände und Rundfunk-Chefs immer wieder im Disput über die Berichterstattung. Und in den Rundfunkarchiven lagern noch viele zeithistorische Schätze.

Von Maximilian Schönherr |
    Wenn ein Historiker einen Archivar trifft, bittet er ihn meist um eine Dienstleistung: "Suchen Sie mir doch bitte mal Unterlagen zu dem und dem Thema heraus!" Auf dem zweitägigen Workshop "Flucht und Vertreibung" im Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt war das anders. Die knapp 10 Archivare aus diversen Rundfunkanstalten zeigten den gut 10 Geschichtswissenschaftlern, wovon diese keine Ahnung hatten, nämlich was zum Thema der europäischen Migrationen nach dem Zweiten Weltkrieg in den deutschen Rundfunkarchiven schlummert. Es schlummert sehr viel; ganz typisch, auch von der Reporterhaltung her, dieser Sendungsmitschnitt von Radio Bremen aus dem Jahr 1951:
    Reporter: Wie sind Sie damals weggekommen aus Ostpreußen? Sind Sie lange dageblieben?
    Frau: Wir sind bis 1945 im November dortgeblieben, weil wir vorher nicht mehr wegkommen konnten, weil uns der Russe überraschte.
    Reporter: Und wann haben Sie denn Ihren Mann wiedergefunden?
    Frau: Von dem hab ich die erste Nachricht bekommen, als ich 1946 in Mecklenburg in Hagenow im Krankenhaus lag.
    Reporter: Na, da waren Sie aber froh, was?
    Frau: Ich war schwer krank, an Typhus. Meine Kinder lagen nebenbei in einem anderen Krankenhaus, ebenfalls an Typhus. Und als ich dann von meiner Schwägerin die Nachricht bekam, dass mein Mann da war, dass er lebte, dann ging es natürlich auch mit meiner Gesundheit wieder bergauf.
    Aus den Originaltönen dieser Zeit, noch bis in die 1970er Jahre hinein, spricht neben dem Leid der Vertriebenen auch deren Hass auf die Vertreibenden – wie hier auf "den Russen", der der Familie ihr schönes Haus im schönen Ostpreußen nahm.
    Die Lobby der Flüchtlinge in der jungen Bundesrepublik war mächtig, sie stand politisch rechts außen, einige Vorstandsmitglieder waren Nazis, vor allem fehlte der Willen, beim Thema Flucht und Vertreibung die Schuld des Nationalsozialismus mitzudenken. Die Vertriebenenverbände gestalteten die Nachkriegspolitik massiv mit. Ihre Vertreter saßen in einigen Rundfunkräten.
    Umfangreicher Briefwechsel zwischen Programmmachern und Vertriebenen-Lobby
    "Wenn ich ein Vöglein"
    "Wenn ich ein Vöglein wär, flög ich zu dir. Weil es aber nicht kann sein, bleib ich allhier", gesungen von Flüchtlingen in einem norddeutschen Kinderheim 1946.
    Das in Frankfurt vorgestellte Archivmaterial enthält zahlreiche Briefwechsel zwischen den Programmmachern auf der einen und den Vertriebenenverbänden auf der anderen Seite. Bis um das Jahr 1960 herum waren die Lobbyisten im Wesentlichen zufrieden mit der Berichterstattung. Danach nahmen die Angriffe auf die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu, weil sich dort der Geist der Versöhnung und Integration von Flüchtlingen breitmachte und sich immer weniger Journalisten ernsthaft wünschten, die ehemaligen sogenannten "Ostgebiete" zurückzugewinnen.
    "Vielleicht deutschtümelte es lange. Aber spätestens in den letzten zwanzig, dreißig Jahren haben wir eine sehr offene und sachliche Diskussion unter den Historikern, gerade auch im Austausch mit Historikern aus den Ländern, aus denen die stammten, geflohen sind und vertrieben wurden, sodass man auf der sachlichen professionellen Ebene nicht mehr die Befürchtung teilen muss, dass dieses Thema ein "Geschmäckle" hätte, sondern man ganz offen diverse Dinge diskutieren kann."
    Maren Röger, Juniorprofessorin für Geschichte an der Universität Augsburg. Sie hat zuvor am Deutschen Historischen Institut Warschau gearbeitet und lud zu dem Workshop ein, weil sie mit zwei Kollegen ein Buch zum Thema Flucht und Vertreibung in den Medien schrieb.
    "Wir haben händeringend jemanden gesucht, der den Eintrag zum Radio, zum Hörfunk schreiben konnte. Es gab niemanden, obwohl wir ausgewiesene Rundfunkhistoriker in Deutschland haben. Und wir merkten sehr schnell, es fehlen die Studien dazu, wir wissen fast nichts."
    Der DDR-Rundfunk, so erläuterte Jörg-Uwe Fischer vom Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam, tickte völlig anders. Unter den Suchwörtern "Flucht" und "Vertreibung" findet man in seinem Archiv fast nichts. Und das hat den Grund, dass die DDR-Staatspartei die negativen Begriffe umbenannte und positiv von "Umsiedlern" und "Neubürgern" sprach – statt von "Flüchtlingen".
    Der Chefkommentator des DDR-Rundfunks Karl-Eduard von Schnitzler analysierte damals von den westdeutschen Vertriebenenverbänden gepflegtes Liedgut.
    Hervorragende Radio-Archive
    Er wähnte hinter deutschtümelnden Schlagern wie "Wir hatten ein Haus und mussten in die Nacht hinaus" und "Einmal möcht' ich die Heimat wiedersehen" eine von der Adenauer-Regierung staatlich bestellte Verschwörung, nämlich...
    "... dass die Flüchtlinge in der Bundesrepublik bereitgehalten werden, um dann irgendwann wieder ihre alten Gebiete im Osten in Besitz zu nehmen, und dass dieser Revanchismus in den Schlagern ganz deutlich zum Ausdruck kommt."
    Dass Historiker und Archivare in zwei verschiedenen Welten leben, wurde auf dem Workshop "Rundfunkgeschichten von 'Flucht und Vertreibung'" nebenbei deutlich. Während die Archivare ihre Schätze zeigten und gern praktische Worte wie "Digitalisierung" und "Hörfunkdatenbank" in den Mund nahmen, sprachen die Geisteswissenschaftler am liebsten vom "Narrativ": "Integrations-Narrativ", "Suchkind-Narrativ" usw. Vor allem für sie, die Historiker, waren die zwei Tage im Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt ein voller Erfolg. Gastgeberin Maren Röger:
    "Die Lage der Archive scheint an einigen Standorten hervorragend zu sein. Da schlummern noch Schätze, von denen wir Historiker bislang nichts ahnten. Und es gibt genug zu tun für die nächsten Jahre, ja Jahrzehnte."
    Und hier noch ein knapp 60 Jahre alter Originalton: ein Reporter und ein Flüchtlings-Waisenkind:
    Reporter: Ihr könnt ja nicht nur schön singen, wie ich gehört habe, ihr könnt auch eure Wünsche in einem Gebet zusammenfassen. Das ist das Hausgebet, in dem alle Wünsche aller dieser Kinder zusammengefasst sind. Und dieses Gebet wird uns die kleine Traute mal sprechen, ja?
    Kind: Du lieber Gott, ich bet zu dir, erhalt die lieben Eltern mir. Bewahre uns in schwerer Zeit vor Hunger, Kälte und vor Leid. Hilf uns, die Nöte überwinden. Lass uns den Weg nach Hause finden.