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Russische Gedichte

Die aktuelle russische Literaturszene ist den deutschen Verlagen offenbar entweder zu unübersichtlich oder zu schlecht. Die Folge: Die Neuübersetzungen zeitgenössischer Autoren lassen sich an einer Hand abzählen. Doch dem auf dem Gebiet osteuropäischer Literaturen besonders engagierten Leipziger Verlag Erata verdanken wir nun die Entdeckung des ebenfalls aus Leningrad stammenden Dichters Leonid Aronson.

Von Uli Hufen |
    Irgendwann im Jahr 1969 schreibt der 30-jährige Leningrader Dichter Leonid Aronson zwei Gedichte, die er "Zwei gleiche Sonette" nennt. "Zwei gleiche Sonette" sind genau, was sie zu sein vorgeben: zwei identische Sonette, Wort für Wort, Komma für Komma und Punkt für Punkt. Ein Jahr später, am 13.Oktober 1970, erschießt sich Leonid Aronson mit einer Flinte, 40 Jahre später ist der Moment gekommen, wo Aronson zu Hause in Russland und draußen in der Welt als großer Dichter des 20. Jahrhunderts erkannt wird. Es hat sehr lange gedauert, aber nun ist es so weit.

    Meine Liebe, schlaf, Kleinod gesegnet,
    bekleidet ganz mit atlasweicher Haut,
    mir scheint, dass wir uns irgendwo begegnet,
    Brustwarzen und Wäsche sind mir so vertraut.

    O wie es gut! O wie es dir! O wie es steht!
    Ganz dieser Tag, ganz dieser Bach, ganz dieses Körpers Bann!
    Und dieser Tag, und dieser Bach, ein Flugzeug dann,
    fliegt einmal hier, fliegt einmal dort, fliegt windverweht!

    In diesem Garten, in diesem Bach, in diesem Augenblick
    Schlaf ein mein Lieb, ganz unbedeckt, schlaf ein:
    Vom Po zum Antlitz, von der Scham zum Po und dann vom Antlitz zu der Scham zurück,
    lass alles schlafen, meine Lebensnahe, lass alles gleiten in den Schlaf hinein.

    Nähere dich nicht nur ein Jota, nur wenige Ellen,
    gib dich mir hin in allen Gärten, in allen Fällen.


    Der Bach, von dem hier die Rede ist, ist Johann Sebastian Bach, und er war nicht der Grund dafür, dass die zwei gleichen Sonette, wie alle anderen Gedichte Aronsons auch, in der Sowjetunion nur im Samisdat, dem Selbstverlag des Undergrounds erscheinen konnten. Schon eher könnte der Grund in der expliziten Nennung von Po und Scham der geliebten Ehefrau Rita liegen, der die beiden Sonette, wie viele andere Gedichte Aronsons, gewidmet sind. Aber letztlich war es ganz egal, was Aronson schrieb: Er wurde in den staatlichen Verlagen nicht gedruckt, weil er und die staatlichen Verlage schlicht und einfach nicht in derselben Welt lebten. Um das zu verstehen: etwas Geschichte.

    Leonid Aronson wurde 1939 in Leningrad geboren, ein Jahr vor Iossif Brodsky, zwei Jahre vor Sergej Dowlatow. Brodsky überlebte den Krieg im belagerten Leningrad, Dowlatow und Aronson, dessen Mutter eine berühmte Chirurgin war, konnten die Stadt verlassen, bevor sich der deutsche Blockadering schloss. Ende der 50er-Jahre, mit 18 oder 19 Jahren zogen Aronson und Brodsky wie Tausende von Altersgenossen auf geologische Expeditionen: hinaus aus der Enge des städtischen Lebens, auf der Flucht vor Regeln und Konventionen. Sibirien lockte, der Kaukasus, Mittelasien, der Ferne Osten. Die Generation der geologischen Expeditionen prägte die sowjetischen 60er und sollte bedeutende Dichter und Sänger hervorbringen. Bevor es so weit war, wäre Aronson allerdings beinahe gestorben. Tief in Sibirien zog er sich eine lebensgefährliche Infektion zu. Mit Hubschraubern und Postflugzeugen gelang die Rückkehr nach Leningrad, wo allein die Intervention der Mutter eine Beinamputation verhinderte. Trotzdem blieb Aronson zeitlebens von der Krankheit gezeichnet.

    Anders als Brodsky und Dowlatow beendete Aronson dann ein Studium und hatte in der Folge stets regelmäßige Brotjobs: als Lehrer für russische Literatur, später als Drehbuchautor. Aber das war nur die Fassade: Das wahre Leben spielte sich anderswo ab: in der Literatur und in den Bohemezirkeln der Stadt.

    Nach Stalins Tod hatten die Sowjetunion und ihr Kulturleben Freiheiten gewonnen, die noch zehn Jahre zuvor undenkbar waren. Das betraf die offizielle Kultur genauso wie die inoffizielle, die Literatur genauso wie Kunst und Musik. Jazz und Rock’n’Roll eroberten das Land, und auch an Drogen herrschte kein Mangel.

    Meine Welt ist genau wie die eure, die ihr nichts von Haschisch wisst:
    Sehnsucht ist Sehnsucht, Liebe ist Liebe, und auch der Schnee ganz flaumig ist,
    Fenster - im Fenster, im Fenster - Feld und Flur,
    doch ist's die Welt der Seele nur.


    Aronson soll nicht nur dem im russischen Slang Plan genannten Haschisch zugeneigt gewesen sein, sondern auch diversen Barbituraten. Aber das war nicht, was ihn zu einem großen Dichter machte. Aronson erschuf eine Synthese aus klassischer Dichtkunst und Moderne, wie sie vielleicht nur ein Kind des Freiluftmuseums Sankt Petersburg erschaffen konnte. Alle seine Gedichte sind gereimt, die Rhythmik, die Akzente - alles ist absolut perfekt und absolut schön. In diese klassische Form goss Aronson aber Gedichte, die inhaltlich und sprachlich durch und durch modern waren. Die verblüffende Mischung aus asketischer Weltabgewandtheit, deutlichen sexuellen Anspielungen und Drogen, der absurde Humor und Aronsons Sprachspiele - all das verweist weniger auf Puschkin, als auf Meister der sowjetischen Avantgarde wie Welimir Chlebnikow, Daniil Charms oder Nikolaj Sabolotskij.

    Heute ist Leonid Aronson schon länger tot als er selbst gelebt hat. Fast 40 Jahre lang wuchs sein Ruhm, langsam und unstetig. In den 70ern zählte er zu den dominierenden Figuren der Leningrader Gegen-Kultur. Als Toter. In den 80ern wurde er vergessen und auch die Perestroika ignorierte ihn, obwohl Publikationen jetzt möglich wurden.

    Erst 2006, 20 Jahre nach der Perestroika, erschien beim Petersburger Verlag Iwan Limbach die erste wissenschaftlich edierte Ausgabe von Leonid Aronsons Werk. Drei Jahre später liegen mit dem zweisprachigen Band "Innenfläche der Hand" gelungene deutsche Übersetzungen seiner wichtigsten Gedichte vor. Die Übersetzungen von Gisela Schulte und Marina Bordne sind wie die Originale durchweg gereimt. In den besten Fällen gelingt Schulte und Bordne das mit einer sprachlichen Leichtigkeit, die Aronsons eigene stupende Begabung zwar nicht erreicht, aber sehr deutlich erahnen lässt. Und es zeigt sich: Auf dem Postament, auf dem Iossif Brodsky als alles überragender Dichter seiner Generation thront, Brodsky, der letzte russische Nobelpreisträger und zeitweilige Bekannte Aronsons, auf diesem Postament muss Platz geschaffen werden für einen zweiten Leningrader Dichter: Leonid Aronson.

    Leonid Aronson: Innenfläche der Hand, Erata Literaturverlag, Leipzig 2009, 180 Seiten, 19,95 Euro, aus dem Russischen von Gisela Schulte & Marina Bordne