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Russland inszeniert

Anfang der neunziger Jahre war die Neugier in deutschen Theaterlanden groß auf das neue heftige, politisch diskursive und ästhetisch fordernde Theater Russlands, das sich in zahlreichen Theaterstudios entwickelte, die in Hinterhöfen und auf den Probebühnen der großen, traditionsreichen Theater das Licht der Welt erblickten. Doch diese wilde, aufregende Zeit war schnell vorbei, und die Marktwirtschaft nahm das russische Theater in einen Klammergriff zwischen Kommerzialisierung und Traditionalismus. Seitdem touren einige Regisseure und Theater aus der ehemaligen Sowjetunion unentwegt über die europäischen Festspielbühnen, während der alltägliche Transformationsprozess des russischen Theaters im Westen kaum wahrgenommen wird.

Von Hartmut Krug |
    Die mittlerweile vom Bund finanzierten Berliner Festwochen verwirklichen in diesem Jahr mit einem Theaterschwerpunkt Russland Forderungen und Versprechungen des deutsch-russischen Kulturabkommens. Der auf Moskau fokussierte Blick in die russische Theaterlandschaft stand deutlich nicht unter einem Neuigkeits- oder Event-Zwang. Etliche der sechs Inszenierungen, die in Berlin gezeigt wurden oder werden, stehen in Moskau zum Teil seit Jahren auf dem Spielplan, andere, wie eine Tschechow-Inszenierung von Kama Ginkas, war bereits vor vier Jahren beim Kunstfest Weimar zu sehen. Daneben bringt Elena Kovylina, die bereits bei den letztjährigen Festwochen in Berlin gearbeitet hat, mit ihrem "Theater der obdachlosen Jugendlichen" Ende des Monats ein neues Projekt in Berlin zur Uraufführung. Außer Wassili Sigarjews in Deutschland bereits mehrfach inszeniertem Stück "Plastilin" über einen vergewaltigten 14jährigen, das vom jungen Regisseur Kirill Serebrennikow Anfang Oktober in Berlin vorgestellt wird, präsentiert die Berliner Festwochen-Auswahl kein wirklich Theater, das mit neuen Ästhetiken heftig in die Gesellschaft einzugreifen versucht.

    Die Inszenierung von Alexander Puschkins Drama "Boris Godunow", vor drei Jahren bei ihrer Premiere beim Moskauer Tschechow umjubelt als Beispiel für eine Öffnung zu modernem europäischem Theater, enttäuschte dann doch mächtig. Die von einem englischen Team um den Regisseur Declan Donnellan mit Schauspielern von unterschiedlichsten Moskauer Bühnen einstudierte Inszenierung brachte einen geradlinig erklärenden englischen mit einem ausgestellt deklamatorischen russischen Spielstil zusammen. Puschkins Stück über Machkämpfe um den Zarenthron, über Manipulation und politischen Mord, aber auch über die Bereitschaft des Volkes, zum anscheinenden eigenen Wohl belogen zu werden, wurde auf einem Laufsteg zwischen dem Publikum gespielt. In schnell ineinander geschnittenen Szenen wird das Geschehen recht bieder in die moderne Mediengesellschaft übertragen, der falsche und der echte Zar kommen wie heutige Machtmanager daher, und die Soldaten tragen aktuelle Kampfuniformen.

    Gespielt wurde in einem weiten Kirchenraum: augenscheinlich sind russische Theatermacher zur Zeit vor allem auf der Suche nach einer neuen Art, dem Publikum entgegen zu treten. Der Regisseur Kama Ginkas, dem mit zwei Inszenierungen eine so genannte "Personale" gewidmet war, arbeitet sich ebenfalls noch an den klassischen Stoffen ab. In "KI from Crime" geht es um Katerina Iwanowna, eine Nebenfigur aus Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne". Die nach dem Tod ihres Mannes, einem Trinker und Kumpan des Romanhelden Raskolnikow, völlig verarmte Frau erzählt von ihrer Demonstration auf dem Newski-Prospekt gegen ihre ausweglose Lage, präsentiert ihre drei kleinen Kinder und lädt das Publikum zum Leichenschmaus. Die nur vierzig Zuschauer sitzen der Darstellerin in einem engen Zimmer hautnah gegenüber, sie sind zugleich Ansprechpartner im Stück wie die Anspielpartner der Aufführung. Die famose Schauspielerin Oksana Mysina spielt ihr Solo vor und mit dem Publikum, ohne sich anzubiedern und gibt dabei die faszinierende Studie einer neurotisierten Frau mit psychologisch-realistischem Spiel und zugleich spielerisch ausgestellten Mitteln.

    Kama Ginkas Bühnenversion von Tschechows Novelle "Der schwarze Mönch", die ich bereits 1999 beim Gastspiel in Weimar gesehen hatte, wirkte jetzt leider wie glatt poliertes theatrales Kunsthandwerk. Ginkas Inszenierung über einen Philosophiestudenten zwischen Genie und Wahnsinn, der sich einen schwarzen Mönch als Gesprächspartner halluziniert, kommt als Erzähltheater mit Rollenspielen daher, lebt aber letztlich völlig vom Bühnenbild: einem vor leerem Zuschauerraum in den Rang gebauten, von Pfauenfedern bewaldetem Spielpodest direkt vor den wenigen Zuschauerreihen. Das ganze war mal spielerisch frisches, konventionelles Theater und wirkt heute schon museal.

    Gleich das Museum im Titel führt "Lilican´s Museum of Theatrical Ideas" . Die von Maja Krasnopolskaja und Ilja Epelbaum geleitete Bühne ist ein fünf Meter hohes Miniaturtheater. Ein nachgebautes klassizistisches Theatergebäude, in dem Akteure und Zuschauer Puppen sind. Nur wenige der lebendigen Zuschauer können in dieses Bühnenhaus durch die Fenster schauen, die andern bekommen das Geschehen auf Videoleinwänden präsentiert. Dieses liebenswerte Museum theatraler Ideen überprüft schon mit seinem ausgestellten Spielort heutige Theaterformen. Aber auch mit den jeweils nur 15 Minuten langen Inszenierungen, zu denen bekannte Künstler eingeladen werden. In Berlin würde Anatoli Wassiljews Version von Molières "Menschenfeind" gezeigt, bei dem das Theater ziemlich demoliert und die Zuschauer unterm Leichtuch begraben werden, und eine Phantasie des italienischen Filmers Tonino Guerra, bei dem die Welt und die Bühne einer Sintflut zum Opfer fallen.

    Das ganze: ein schönes Beispiel dafür, dass Festivals nicht nur auf krachende, äußere Events setzen müssen, sondern sich auch stille, philosophisch-poetische Theaterversuche leisten können. Auch wenn der russische Theaterschwerpunkt insgesamt bisher einen eher zwiespältigen Eindruck hinterließ und nicht unbedingt die aktuelle Wirklichkeit russischen Theaters vermittelt: "Lilican´s Museum of Theatrical Ideas" wirkt nach.

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