Archiv

Russlanddeutsche
Seelsorger in Sorge

Nachdem die Geschichte von der angeblichen Vergewaltigung eines deutsch-russischen Mädchens kursierte, gingen Tausende Russlanddeutsche auf die Straße. An der Seite von Rechtsradikalen demonstrierten sie gegen die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Die kirchlichen Integrations-Beauftragten fragen sich nun, wie integriert Aussiedler wirklich sind.

Von Michael Hollenbach |
    Hunderte Russlanddeutschen demonstrieren in Villingen-Schwenningen gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland.
    Hunderte Russlanddeutschen demonstrieren in Villingen-Schwenningen gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland. (dpa / Marc Eich)
    Wie hier in Osnabrück demonstrierten Russlanddeutsche – oft unterstützt von Leuten aus dem rechtsradikalen Bereich – gegen die angebliche Vertuschung einer vermeintlichen Vergewaltigung eines jungen Mädchens und gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.
    "Die Gruppe der Russlanddeutschen ist eine Gruppe, die eher mit Unsicherheit lebt. Und Menschen, die unsicher in ihrem Leben sind, rufen eher nach äußerer Sicherheit", sagt Sabine Arnold. Sie leitet in Nürnberg die evangelische "SinN-Stiftung": ein bundesweit einmaliges Projekt, das sich auf die Seelsorge für Russlanddeutsche konzentriert. "Ein großer Faktor der Unsicherheit ist natürlich die Migration. Die eigene Migration ist erlebt worden als ein Herausreißen aus heimischen Strukturen. Nun haben wir aber in Deutschland diese Zuwanderungswelle nicht besonders mit Beachtung gewürdigt", sagt sie.
    Und Reinhart Schott, der Vorsitzende der Konferenz für Aussiedler-Seelsorge in der Evangelischen Kirche in Deutschland, der EKD, ergänzt: "Das sind Leute, die gedacht haben, sie können hier ihre Identität finden und entfalten, und jetzt kommt in dieses Land auf einmal etwas für sie ganz Fremdes hinein, wo sie selber sich noch nicht mit dieser Identität zurecht gefunden haben, sondern erst auf diesem langen Weg der Identitätsfindung sind. Jetzt kommt wieder was Fremdes, was Neues dazu und das verunsichert, und das macht auch Angst."
    Russlanddeutsche schlechter behandelt als muslimische Migranten?
    Mehr als vier Millionen Russlanddeutsche leben hierzulande. Die meisten kamen in den 80er und 90er Jahren. Viele bemängeln, dass sie, die doch deutsche Wurzeln hätten, schlechter behandelt worden seien als heute die muslimischen Flüchtlinge. Die Seelsorgerin Sabine Arnold: "Sie erleben jetzt, dass sich aktuell um die Flüchtlinge, die jetzt seit dem letzten Sommer zu uns kommen, viel mehr gekümmert wird, dass Konzepte entwickelt werden, wie sie in den Arbeitsmarkt integriert werden können, wie sie Sprache schnell erlernen können. Das haben viele Russlanddeutsche so hier nicht erleben dürfen."
    Artjom Daschin-Kisler kam mit 17 Jahren aus Kasachstan nach Deutschland. Der heute 33-jährige hat nicht an den Demonstrationen teilgenommen, aber er kann die Sorgen vieler Russlanddeutscher nachvollziehen: "Man weiß nicht, was mit den Ankommenden passiert. Sie kennen das aus unterschiedlichen Großstädten, dass man viele in irgendwelche Viertel gesteckt hat, man sieht das in Frankreich am Rand der Städte, und das darf nicht passieren. Ich glaube, davor hat man Angst, dass es hier zur gleichen Situation kommen könnte. Wenn die Politik Leute einlädt, sich aber nicht ausreichend um die Integration kümmert, dann ist die Besorgnis groß."
    Artjom Daschin-Kisler betont, dass nur eine kleine Minderheit der Russlanddeutschen die Vergewaltigungsgeschichte glaube und gegen die Flüchtlingspolitik auf die Straße gegangen sei. Aber die Politik Angela Merkels würde in seinem Freundeskreis sehr kontrovers diskutiert: "Man kann das 50:50 teilen. Man kann sich mit den besten Freunden zerstreiten über das Thema."
    Hohe Suizidrate in den 90ern
    Dass bei etlichen Russlanddeutschen - die meisten sind protestantischen Glaubens - Vorbehalte gegen Muslime zu spüren seien, habe auch mit Erfahrungen aus der ehemaligen Sowjetunion zu tun, meint Sabine Arnold: "Was noch dazu kommt, ist, dass die muslimischen Mitbürger in der Sowjetunion oder auch in Russland kein hohes Ansehen genießen, dass man sie eher als rückschrittlich empfindet, oder auch als aggressiv, wenn wir zum Beispiel denken an die unendlichen Auseinandersetzungen in Tschetschenien."
    Die meisten der Russlanddeutschen, auch wenn sie gut integriert sind wie Artjom Daschin-Kisler, fühlen sich oft zerrissen. Der junge Mann aus Hannover besucht sonntags in einer evangelischen Gemeinde eine Bibelstunde, zu der nur Russlanddeutsche kommen. Und die Verbindung in die alte Heimat sei noch stark, meint der Produktdesigner: Mehr als 90 Prozent seiner Landsleute würden regelmäßig russisches Fernsehen schauen. Er selbst trauere manchmal seiner Kindheit in Kasachstan nach: "Kann an mir selbst sagen: Es geht mir gut, ich habe versucht, hier was zu erreichen, ich bin dankbar diesem Land, trotzdem hat man das Kindheitserlebnis. Man hat das Gefühl gehabt, die Menschen waren früher näher zusammen. Hier sind mehr Individualisten, und ich glaube, genau das macht einen unzufrieden. Diese Migranten-Generation hat zu einem Großteil ihr Herz noch in der alten Heimat gelassen. Das Ankommen hier war so schwierig, dass die Sehnsuchtsheimat immer noch drüben ist", sagt Arnold.
    Wie schwierig das Ankommen war, zeigen auch die Selbsttötungen: In den 90er Jahren lag die Suizidrate bei den jungen Russlanddeutsche doppelt so hoch wie bei jungen einheimischen Deutschen.
    Die Integration sei auf halbem Weg ins Stocken geraten, sagt Reinhard Schott, Integrationsbeauftragter der pfälzischen Landeskirche. Bis Mitte der 90er Jahre habe die Kirche sich in der politischen Weiterbildung und christlichen Sozialisation der so genannten Spätaussiedler stark engagiert. "Dann hat die Bundesregierung entschieden, sie will diese Projekte, diese Freizeitmaßnahmen nicht mehr finanzieren. Dieses findet leider seit fast 20 Jahren nicht mehr statt."
    Und Sabine Arnold kritisiert auch ihre Kirche, die EKD: "Wir haben in der Aussiedlerseelsorge erlebt, dass uns die finanziellen Mittel für unsere Arbeit sehr weit zusammengestrichen worden sind. Das Argument war, es sind ja jetzt alle da. Wir sehen jetzt: Das ist ein Kurzschluss. Wir wissen auch aus der interkulturellen Arbeit, dass Integration immer mehrere Generationen braucht, bis sie wirklich vollzogen sind."