Donnerstag, 28. März 2024

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Säkularisierung
Kehrt die Religion zurück nach Europa?

Die Welt erlebt eine Wiederkehr der Religion, sie kommt in der Gestalt des Islams ins säkularisierte Europa zurück – sagt der tschechische Soziologe und Religionsphilosoph Tomáš Halik. Atheistische Denker widersprechen Haliks These: Sie sehen nach wie vor einen Niedergang der Religion, zumindest in unseren Breiten. Wer liegt richtig?

Von Burkhard Schäfers | 02.11.2016
    Tomáš Halík mit erhobenem Zeigefinger
    Tomáš Halík ist ein tschechischer Priester und Intelektueller (Carl Court / AFP)
    "Gott ist tot – beziehungsweise hat nie gelebt." "Gott ist die Liebe." "Gott lässt sich mit unseren Worten nicht beschreiben." Es gibt so viele Formen von Glauben und Unglauben, wie es Menschen gibt, sagt der tschechische Soziologe und Denker Tomás Halik:
    "Es gibt einen tiefen Glauben, es gibt auch eine politisch missbrauchte Religion, es gibt eine naive Bigotterie. Und auch im Atheismus gibt es einen militanten Atheismus, einen stolzen Atheismus – aber es gibt auch einen Atheismus der Schmerzen, von den Leuten, die sagen: Es gibt so viele schreckliche Dinge in meinem Leben."
    Tomás Halik vereint in seiner Person zwei Perspektiven: Die des soziologischen Beobachters religiöser Phänomene – und die des Gläubigen in einem säkularen Umfeld in Tschechien.
    Religion im Untergrund
    Der 68-Jährige studierte in Prag Philosophie, Soziologie und Psychologie. Zudem absolvierte er vor 40 Jahren im Untergrund ein Theologiestudium – und ließ sich 1978 in Erfurt zum Priester weihen. Geheim!
    "Auch meine Mutter wusste nicht, dass ich Priester war. Besonders diese Untergrundkirche war für mich sehr überzeugend. Also, es war ein Risiko, aber ich bin sehr froh, dass ich diese Erfahrungen habe. Besonders die Erfahrung mit der Verbindung von Zivilberuf und priesterlicher Tätigkeit."
    Damals arbeitete Halik als Psychotherapeut in einer Prager Klinik für Alkoholiker und Drogensüchtige. Daneben feierte er heimlich Gottesdienste, half dabei, vom sozialistischen Regime verbotene philosophische und theologische Bücher zu verbreiten.
    Wiederkehr des Spirituellen
    Als Grenzgänger zwischen den Welten wurde er im Laufe seines Lebens zum gefragten Ansprechpartner: besonders auch für jene, die mit herkömmlichen Kirchenstrukturen wenig anfangen können, aber Antworten auf existentielle Fragen suchen.
    Heute ist Halik neben seiner Tätigkeit als Professor für Soziologie auch Rektor der Prager Universitäts-Kirche. Er hat bisher rund 1.300 Menschen getauft. Obwohl Tschechien eines der säkularsten Länder in Europa ist, spricht Tomás Halik von einer Wiederkehr des Religiösen.
    "Diese Rückkehr der Religion ist nicht eine Rückkehr zur Religion der alten Zeiten. Auf der einen Seite transformieren sich einige Religionen in eine politische Ideologie. Auf der anderen Seite gibt es auch viele Leute, die sagen, ich bin nicht religiös, sondern spirituell."
    Und es gibt jene, die den Glauben an eine höhere Instanz ablehnen.
    "Die Wiederkehr der Religion ist überhaupt nicht attraktiv"
    Der Marburger Philosoph Joachim Kahl sieht keinen Wert in der Aussage, die Religion kehre zurück ins säkularisierte Europa. Für ihn heißt die entscheidendere Frage: Welche Form von Religion kehrt zurück?
    "Die Wiederkehr der Religion ist ja nun überhaupt nichts Attraktives. Denn wie kehrt sie wieder? Durch tägliche Bombendrohungen und Massenmord. Der freilich immer religiös begründet ist: Es wird 'Allah will es' gerufen, und dann sprengt man sich weg in der Hoffnung, man selbst landet im Paradies und die bösen Ungläubigen landen in der ewigen Verdammnis."
    Der deutsche Philosoph und Humanist Joachim Kahl.
    Der deutsche Philosoph und Humanist Joachim Kahl. (Deutschlandradio / Burkhard Schäfers)
    Die Antwort auf religiösen Fanatismus sieht Joachim Kahl im Atheismus. Der Philosoph bezeichnet sich als weltlichen Humanisten, dessen Denken maßgeblich durch die Religionskritik der Aufklärung geprägt sei. Die künftige Rolle von Religion in der Gesellschaft skizziert er so:
    "Die Religion ist in Europa im Niedergang begriffen. Freilich nicht in einem automatischen Untergang. Den sehe ich überhaupt nicht, weil das Leben der Menschen so schwierig und kompliziert ist, dass es immer Menschen geben wird, die sich an religiöse Sinnangebote und Heilsversprechungen klammern. Man muss vielleicht von gegenläufigen Tendenzen sprechen: Es kommt auf die Milieus an, in denen man sich bewegt."
    Ist es demnach vernünftiger zu glauben – oder nicht zu glauben? Der katholische Soziologe Tomás Halik antwortet darauf – zunächst irritierend – mit einem doppelten Ja: In jedem Ungläubigen stecke zugleich ein Gläubiger, und in jedem Gläubigen auch ein Atheist. Wer nur eine Position zulasse, könne zum Fanatiker werden. Beide Seiten in sich zuzulassen und nicht zu unterdrücken, sei in jedem Fall von Vorteil.
    "Ein kritischer Atheismus kann die naive religiöse Vorstellung ein wenig bereinigen. Ein gewisser Typ von Atheismus hat auch ein Stück Wahrheit. Wir sollten das umarmen und integrieren."
    Atheisten finden Umarmungsstrategien anstößig
    Joachim Kahl – der Vertreter der atheistischen Position –will sich aber nicht umarmen lassen und in seinem Denken vereinnahmt werden. Er hält das für anstößig.
    "Das stammt noch aus der mittelalterlichen Scholastik. Da war die Philosophie die Magd der Theologie. Die sollte den Boden bereiten. Und das ist auch der Wunsch von Herrn Halik, dass der Atheismus eine reinigende, den Glauben korrigierende Position einnehmen soll. Aber das ist keine nachahmenswerte Position."
    In München in der Katholischen Akademie Bayern diskutieren Joachim Kahl und Tomás Halik auch über die Frage religiöser Indifferenz.
    Für den Atheisten steht die Frage nach Gott naturgemäß nicht im Vordergrund. Ethik sei viel älter als Religion, so Kahl. Verbindende humanistische Werte entstünden im Zusammenleben der Menschen.
    Halik kritisiert den "Apatheismus"
    Halik hingegen hält es durchaus für notwendig, dass die Menschen sich religiöse Fragen stellen. Er kritisiert den verbreiteten – wie er es nennt – "Apatheismus":
    "Die Leute sind apathisch, nicht nur gegenüber den Antworten des Glaubens, sondern selbst gegenüber den Fragen. Das ist schwierig. Mit den militanten Atheisten können wir einen Dialog führen. Aber dieser Apatheismus ist heute mehr verbreitet als der Atheismus."
    Ist die Säkularisierung am Ende, kehrt die Religion zurück? Glaubende und Atheisten geben auf diese Frage jeweils unterschiedliche Antworten. Wer also entscheidet darüber in einer pluralen Gesellschaft? Joachim Kahl sagt:
    "Darüber entscheiden wir selbst, die Diskutanten. Es gibt keine höhere Instanz, wer sollte sich eine solche Deutungshoheit anmaßen? Insofern bleibt das ein Hin und Her – ein Gewoge."