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Saisonstart in Australien
Der deutsche Radsport in der Identitätskrise?

Mit der Tour Down Under hat die Saison der Radprofis in Australien begonnen. Deutschland ist mit einem zweiten Profi-Team vertreten, doch die deutschen Top-Stars fahren allesamt im Ausland. Auch deutsche Firmen stecken ihr Geld lieber in ausländische Teams.

Von Holger Gerska | 21.01.2017
    Marcel Kittel (links) und Tony Martin feiern ihren Sieg bei der Radsport-WM in Dohaa/Katar.
    Die deutschen Radsportler Marcel Kittel (links) und Tony Martin fahren im Ausland (dpa / picture-alliance / Yorick Jansens)
    Nein, den Zeiten in Magenta soll keine Träne nachgeweint werden. Aber damals hatten es die deutschen Radsport-Zuschauer – die meisten sicher eher Laien als Fans – einfach, die deutschen Farben zu erkennen. Jetzt im Jahr des Tour-de-France-Starts in Düsseldorf ist die Lage selbst für Insider unübersichtlich: Es gibt neuerdings wieder zwei deutsche, also in Deutschland lizensierte Mannschaften in der World Tour – doch wie deutsch sind die wirklich?
    Denn die vier großen Stars des deutschen Radsports Andre Greipel, John Degenkolb, Tony Martin und Marcel Kittel fahren alle im Ausland – und zwar für vier verschiedene Teams. Ähnlich sieht es mit den deutschen Sponsoren aus: Die Supermarkt-Kette Lidl steckt Millionen in das belgische Quickstep-Team, während eine der beiden deutschen Mannschaften – nämlich Sunweb – neuerdings den Namen eines Schweizer Reiseunternehmens trägt. Voriges Jahr hieß das Team Giant-Alpecin, gemanagt wird es von Niederländern. "Für mich ist Giant-Alpecin kein deutsches Team", sagt Andre Greipel und auch für John Degenkolb ist klar: "Giant-Alpecin hat eine deutsche Lizenz, aber der Kern der Mannschaft ist natürlich in Holland."
    "Man muss sich einzelne Fahrer rauspicken"
    Dabei fuhren John Degenkolb wie auch Marcel Kittel für Giant, vor zwei Jahren stand das Team für den Aufbruch des deutschen Radsports. Jetzt ist Simon Geschke der einzige deutsche Radprofi dieser Mannschaft, der schon einen Etappensieg bei der Tour de France vorweisen kann. Die vor zwei Jahren geplante deutsche Nationalmannschaft ist sein Team längst nicht mehr: "Klar, für die Deutschen ist es natürlich schwierig zu sagen: Das ist jetzt unser Team, das wir supporten und weswegen wir Tour gucken. Man muss sich halt die einzelnen Fahrer rauspicken leider, so ist es halt."
    Stattdessen hat das ehemalige Giant- und jetzige Sunweb-Team eine Art deutsche Nachwuchs-Nationalmannschaft, das Development-, also Entwicklungsteam unter Vertrag. Der niederländische Manager Ivan Spekenbrink und seine neue Strategie den deutschen Markt zu erobern: "Man hat jetzt hier eine gute Generation. Aber was Deutschland braucht ist, das auch die nächste Generation genügend Stars hat. Damit eines Tages die Deutschen wieder richtig begeistert sind vom Radsport." Und sich für Sponsoren wie Sunweb die Investition in den Markt lohnt, der von der dopenden Szene vor einem Jahrzehnt praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde.
    Bora buhlt vergeblich um deutsche Top-Fahrer
    Anders liest sich die Strategie des anderen deutschen World-Tour-Teams. Mit dem Küchenbauer Bora hat ein mittelständisches bayrisches Unternehmen den finanziellen Grundstein gelegt. Der sportliche Macher Ralph Denk hat das Team behutsam aufgebaut, bemüht sich aber nach eigener Aussage seit Jahren um einen der verlässlichen deutschen Siegfahrer.
    Präsentation des neuen Radsportteams Bora-hansgrohe
    Das neue deutsche Radsportteam Bora-hansgrohe (imago)
    Vergeblich: "Wir haben uns vor zwei Jahren schon mal um Marcel Kittel bemüht, aber da waren wir noch in der 2. Liga. Das habe ich verstanden. An John (Degenkolb) hatten wir Interesse, er ging einen anderen Weg. Tony Martin ebenso und Andre Greipel auch. Also es lag nicht an uns. Vielleicht haben sie zu dem Zeitpunkt, wo man mit ihnen gesprochen hat, noch nicht so an unser Projekt geglaubt."
    "Projekt" klingt wie eine Fußball-Mannschaft aus Leipzig. Und wie ein Fußballer klingt auch der viermalige Einzelzeitfahr-Weltmeister Tony Martin, wenn er erklärt, warum auch er Bora einen Korb gegeben hat: "Sicherlich war irgendwann mal das Ziel, eine stark besetzte wirklich auch deutsche Mannschaft zu haben. Von dem Gedanken bin ich aber aktuell wirklich abgekommen. Ich fühle mich auch wohl in internationalen Teams. Macht viel Spaß, auch andere Kulturen kennenzulernen."
    Superstar Sagan fährt für deutsches Team
    Die bayrische Radsportkultur bereichert jetzt mit dem Sanitärtechnik-Hersteller hansgrohe ein Unternehmen mit Sitz im Schwarzwald und im Zuge dessen mit Peter Sagan – der aktuelle Superstar der Szene. Rund 4 Millionen Euro pro Jahr kann sich Teamchef Ralph Denk den unter Radsportfans höchst beliebten und bekannten Weltmeister der letzten beiden Jahren kosten lassen. Und der Slowake fördert den Bekanntheitsgrad – der auf internationale Märkte strebenden Sponsoren seines Rennstalls. Deutlich mehr, als es jeder deutsche Fahrer könnte: "Es ist speziell hier in Australien enorm. An jeder Ampel muss er Interviews geben, muss Autogramme schreiben und muss Fotos mit den Fans machen. Aber er ist da wahnsinnig geduldig, macht das ziemlich entspannt."
    Slovakian Peter Sagan of Tinkoff celebrates on the podium after winning the second stage of the 103rd edition of the Tour de France cycling race, 183 km from Saint-Lo to Cherbourg-en-Cotentin, Sunday 03 July 2016, France. This year's Tour de France takes place from July 2nd to July 24rth. BELGA PHOTO DAVID STOCKMAN |
    Der slowakische Radprofi Peter Sagan (dpa / picture-alliance / David Stockman)
    Unterm Strich geht es um Geld und Märkte. Einer, der immer einen Bogen um deutsche Teams gemacht hat, sieht das durch die Brille des Edelfans: der ehemalige Radprofi Jens Voigt: "Ich selbst bin auch nie in einem deutschen Team gefahren. Das hat mir auch keinen Schaden getan. Dafür haben wir aber das coolste Team der Welt in Deutschland: Peter Sagan fährt für ein deutsches Team! Doppelweltmeister, der coolste Fahrer der letzten 20 Jahre! Das beste Team der Welt haben wir in Deutschland!"
    Aber welcher deutsche Sportfan weiß das? Am 1. Juli beginnt die Tour de France in Düsseldorf. Mit Bora, hansgrohe, Sunweb, mit Tony Martin, John Degenkolb, Simon Geschke, Marcel Kittel und Andre Greipel. Immerhin: Es wird bunt und nicht mehr Magenta.