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Sakral und profan

Kann es einen schöneren Ausstellungsort geben, um die Dekadenz, den Glanz und das herannahende Ende einer der luxuriösesten Städte des 18. Jahrhunderts in Form einer Ausstellung vorzustellen? Die romantische und stille Isola di San Giorgio Maggiore liegt nur wenige Minuten mit dem Vaporetto, dem Linienboot, vom ständig von Touristen überlaufenen Markusplatz entfernt. Auf der Insel erhebt sich eine große Klosteranlage, in der seit einigen Jahrzehnten die Fondazione Cini untergebracht ist. Eine private Stiftung zur Erforschung der italienischen Kunstgeschichte im Allgemeinen und zum Studium der venezianischen Kunst im Besonderen. Die von ihr organisierten Ausstellungen gehören zu den schönsten und lehrreichsten, die man in Italien zu sehen bekommen kann. Auch die neue Kunstschau verdient Aufmerksamkeit: Zum ersten Mal überhaupt werden Giambattista Tiepolo und sein Sohn Giandomenico als Porträtisten vorgestellt, die in ihren Bilder, vor allem in ihren Zeichnungen, die Menschen eines Stadtstaates zeigen, der satt und träge, der luxusverliebt und selbstgenügsam seinem Ende entgegen feiert. Ein Ende, so der Kunsthistoriker Emilio Quinté, dass Napoleon Bonaparte 1797 herbeiführte, in dem er den Staat Venedig auflöste:

Von Thomas Migge |
    Sie sind verschreckt, sie ahnen, dass es ihrem Ende entgegengeht. Dieses Verschrecktsein wollten die Tiepolos darstellen. Der Vater in seinen späten Bildern, aber vor allem der Sohn. Mit Verschrecken meine ich jenes im Unterbewusstsein erahnte Wissen, dass es so nicht mehr weitergehen kann, dass die besten Jahre der einstmals politisch und wirtschaftlich starken Seerepublik vorbei sind.

    Die in der Fondazione Cini gezeigten rund 125 Bilder, vor allem Zeichnungen aus europäischen und US-amerikanischen Privatsammlungen, überraschen durch ihren karikaturalen Charakter. Giambattista aber noch mehr sein Sohn Giandomenico Tiepolo stellen ihre venezianischen Landsleute als vergnügungssüchtige, hedonistische und liebestolle Individuen vor. Die Protagonisten ihrer Bilder sind der Adel und das reiche Bürgertum sowie der Pulcinella. Die Tiepolos benutzten diese Charakterfigur der Commedia dell'Arte, die eigentlich aus Neapel stammt, um das, so schrieb Giandomenico in einem seiner Briefe, "Gefräßige, Hinterlistige und Eigennützige der Venezianer" zum Ausdruck zu bringen. Wie beispielsweise auf der Tuschezeichnung "Picnic" von Giandomenico Tiepolo: zu sehen ist ein Trinkgelage auf einer Wiese. Geil blickende Edelleute versuchen einige Damen, die wie Prostituierte gekleidet sind, mit Leckereien voll zu stopfen. Emilio Quinté ist davon überzeugt, dass die Tiepolos mit solche Darstellungen ihre Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen in ihrer Heimatstadt in Kunst umzusetzen versuchten - ähnlich wie in den satirischen Bildern den Engländers Hogarth:

    Dazu muss man wissen, dass die venezianische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich monatelang, während des berühmten Karnevals, der Ausgelassenheit und Verschwendungssucht hingab. Künstler und Literaten kritisierten das immer wieder. Darunter auch die beiden Tiepolos. Vor allem Giandomenico, dem diese Gesellschaft zahllose Sujets für seine Bilder lieferte.

    Die Ausstellung auf der Insel San Giorgio beginnt mit einer Reihe von Karikaturen von Marco Ricci und Anton Maria Zanetti, die venezianische Huren und Priester, Anwälte, Kastraten und elegante Damen zeigen. Von Giambattista Tiepolo stammen die in der zweiten Ausstellungssektion zusammengetragenen Pulcinelladarstellungen. Bilder von großer Ironie: ein dickwanstiger Kaufmann versucht seine kurzen und fetten Arme auf seinem runden Bauch zusammenzufalten, ein betrunkener Pulcinella uriniert an eine Kirchenmauer und bekreuzigt sich dabei und ein Völlerer gibt sich, ausgestreckt auf einem Sofa, einem tiefen Verdauungsschlaf hin. Emilio Quinté:

    Das sind Bilder einer selbstgenügsamen, einer faulen, einer sterbenden Gesellschaft, die aufmerksamen Künstlern massenweise Themen lieferte. Vor allem Giandomenico Tiepolo. Mit dem Ende der Republik Venedig verlor er seine Auftraggeber und war nicht mehr gefragt. Zwischen 1797 und seinem Tod 1804 schuf er 104 Zeichnungen, die eine Hommage an eine vergangene Zeit sind.

    Während sein Vater und er selbst in jungen Jahren die Karikatur bevorzugten, um venezianische Typen überzeichnet darzustellen, zeigt dieser letzte Bilderzyklus von Giandomenico Tiepolo unter dem Titel "Vergnügungen für Kinder", Pulcinellafiguren und Venezianer, die sich miteinander vergnügen, die miteinander kochen, tanzen und verschiedenen Freizeitbeschäftigen nachgehen. Die beißende Kritik der Karikaturen früherer Jahre hat Einblicken in venezianische Alltagsszenen kurz nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Platz gemacht. Nur der Pulcinella, der nicht in die neue revolutionäre Zeit passt, erinnert noch an das ausgelassene Leben der untergegangenen Seerepublik Venedig.