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Salafismus
Geschlossene Gesellschaft

Bekannt wurde die Organisation "Die wahre Religion" durch das Verteilen von Koran-Ausgaben in Fußgängerzonen. Seit 2016 ist sie verboten. Einer der maßgeblichen Mitstreiter musste sich nun in Berlin vor Gericht verantworten: Er wurde wegen Volksverhetzung verurteilt.

Von Daniela Siebert | 06.07.2018
    Ein Islamist verteilt in Berlin kostenlose Koran-Exemplare an Passanten
    "Die wahre Religion" war auch als "LIES! Stiftung" bekannt. (dpa-Zentralbild)
    Über zwei Stunden ließ Hawar Z. gestern den Strafprozess im Amtsgericht Tiergarten über sich ergehen. In der immer selben Pose: hängende Schultern, gesenkter Blick. Irgendwie unpassend zu dem sportlichen jungen Mann, der da saß: 32 Jahre, im modischen Kurzarmhemd mit karierten Sommerbermudas und Turnschuhen, das Gesicht glatt rasiert. Es sieht freundlich und friedfertig aus.
    Doch gestern holte den Sozialarbeiter seine Vergangenheit als Salafist ein: das Jahr 2016 - als er noch den in der Salafisten-Szene so beliebten Vollbart trug, nach strengen Regeln lebte, die er für wahrhaft islamisch hielt und regelmäßig am Kudamm einen Stand zur Koranverteilung betrieb. Was er damals über Andersdenkende dachte, auch über gemäßigte Muslime, das offenbarte er in einer geschlossenen Chatgruppe bei Whatsapp, in der ausschließlich Mitstreiter aus seiner "Lies!"-Gruppe kommunizierten. Wir zitieren Beispiele:
    "Handlanger des Satans"
    "Schlimmer als Tiere"
    "Armselige Psychopathen"
    "Schaut wie diese Christenmuschriken neidisch sind, wenn wir ins Paradies eingehen, werden sie sich wünschen, Muslime zu sein"
    "sie arbeiten für Dreck und Lügen"
    "satanische Ungläubige"
    Hawar Z. bestreitet diese Chat-Aussagen nicht. Sie waren 2016 von Ermittlern auf dem Handy eines anderen Chat-Teilnehmers gefunden worden und führten zu einer Wohnungsdurchsuchung bei Hawar Z., der damals bei seinen Eltern lebte. Just an dem Tag, an dem bundesweit über einhundert Wohnung von Mitgliedern des Vereins "Die wahre Religion" durchsucht wurden und der damalige Bundesinnenminister die Organisation verbot.
    Verteidiger plädiert auf Freispruch
    Hawar Z. ist Kind irakischer Kurden. Er wuchs in Deutschland auf – in Halle, studierte in Merseburg und kam 2010 nach Berlin. Er könnte viel erzählen, was in Berliner Salafistenkreisen 2016 los war. Zum einen, weil er sich da schon seit mehreren Monaten für die "Lies-"Aktionen engagierte, die kostenlose Koranexemplare verteilte und missionarische Absichten verfolgte. Zum andern, weil er die Radikalen-Moschee in der Perleberger Straße besuchte, in der auch der spätere Weihnachtsmarktattentäter Anis Amri verkehrte.
    Doch Hawar Z. schwieg. Er ließ nur seinen Verteidiger Walter Venedey eine Erklärung verlesen, die seinen Werdegang beleuchtet und betont, er distanziere sich heute von seinen damaligen Aussagen und verurteile sie. Außerdem sei er bereits im Oktober 2016 aus der Organisation ausgeschieden - von sich aus - und habe sich sogar Hilfe bei der Organisation "Hayat" geholt, die auf die Unterstützung von Aussteigern spezialisiert ist. Das Hauptargument des Verteidigers Walter Venedey: Die oben zitierten Chat-Aussagen seien von der Religions- und Meinungsfreiheit gedeckt, die das Grundgesetz garantiert:
    "Hier handelt es sich ja nicht darum, dass an die Öffentlichkeit irgendwelche Aufrufe gemacht worden sind, es gibt auch keinen Kontext, zu irgendwelchen militanten Gruppen, wo man hätte sagen können: dDa ist sozusagen schon etwas gebahnt worden, sondern es handelt sich um Äußerungen im Rahmen der Glaubenspraktizierung und deswegen bin ich der Auffassung, dass es den Schutz von Artikel 4 und 5 genießt und werden wir sehen müssen, ob das Bestand hat."
    Folgerichtig plädierte der Verteidiger auf Freispruch. Der Staatsanwalt Michael Wachs wertete die Chat-Äußerungen gänzlich anders und sah dadurch den öffentlichen Frieden in Gefahr. Hawar Z. habe gezielt zum Haß gegen Christen aufgestachelt und seine Zielgruppe seien sinnsuchende junge Männer, die sich der "Lies"-Bewegung angeschlossen hätten um Orientierung zu finden. Viele seien durch die Lies-Bewegung radikalisiert worden, zum Teil sogar zu Dschihadisten in Syrien geworden, dafür trage Hawar Z. auch Mitverantwortung, so Wachs. Die Koranverteilaktionen waren in seinen Augen nur die harmlose Außenansicht, das wahre Gesicht der Gruppe habe sich in den Chats gezeigt. Er forderte im Ergebnis 15 Monate Haftstrafe auf Bewährung.
    Abwendung vom Salafismus
    Richterin Mareike Meier entschied anders. Sie verurteilte Hawar Z. wegen Volksverhetzung zu vier Monaten Gefängnis - wandelte diese Strafe jedoch in eine Geldstrafe um. Gerichtssprecherin Lisa Jani.
    "Die Richterin hat in ihrer Urteilsbegründung gesagt, dass sie hier die Grenzen der Meinungsfreiheit als eindeutig überschritten ansieht, indem der Angeklagte Ungläubige als "Psychopathen", "Satanshelfer" und "Schlimmer als Tiere" bezeichnet hat."
    Die Chat-Äußerungen verursachten und verstärkten Haß gegen andere urteilte die Richterin.
    Einen Antrag des Verteidigers, ein islamwissenschaftliches Gutachten zu bestellen, das feststellen solle, die Chat-Äußerungen entsprächen Aussagen des Koran, verwarf das Gericht.
    Eine Woche haben Staatsanwaltschaft und Verteidigung Zeit, um in Revision oder in Berufung zu gehen.
    Für Hawar Z. könnte es unabhängig davon ein Happy End geben. Denn auch das wurde im Laufe des Prozesses deutlich: Seine Abwendung vom Salafismus erscheint glaubwürdig und nachhaltig. Das bescheinigen ihm sowohl die Hilfsorganisation Hayat als auch ein Polizist, der als Zeuge gehört wurde. Und sein aktueller Arbeitgeber ist voll des Lobes für Hawar Z., was er als Sozialarbeiter in einer Flüchtlingsunterkunft leistet: engagiert und verantwortungsbewusst sei das.