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Samuel Becketts Vorstellungen von Apokalypse

In Zeiten, da Krisen die Normalität buchstabieren, fallen Untergangsprognosen auf fruchtbaren Boden. Doch Vorstellungen von Apokalypse und Endzeit lassen sich in allen Kulturepochen und Genres finden. In Samuel Becketts Erfolgsdrama "Endspiel" geht es um eine Endzeit nach dem Untergang der Welt.

Von Christian Linder | 01.05.2012
    Wie können wir nach vorne leben, obwohl wir wissen, dass wir sterben müssen? Wir können es aufgrund einer Fantasieleistung des Unbewussten, das so tut, als hätten wir einen unbegrenzten Vorrat an Zeit. In Samuel Becketts "Endspiel" ist diese Fantasieleistung aber ausgeblendet. Das Stück ist im buchstäblichen Sinne ein Spiel mit dem Ende, vor dem Verhallen allen Lebenslärms, kurz vor dem Tod. Es erzählt in fragmentarisierten Szenen, die jeden Sinnzusammenhang nicht nur verweigern, sondern die Sinnlosigkeit und das Unverständliche geradezu hervortreiben, eine innere Geschichte der letzten Augenblicke in einer Ruinenepoche, weil die äußere Welt längst untergegangen ist.

    Theodor W. Adorno hat in seinem Versuch, das Endspiel zu verstehen, an einen Jugendessay Becketts erinnert, der sich mit Marcel Proust und vor allem dessen Sterben beschäftigte – Proust wollte den eigenen Todeskampf protokollieren, damit die Notizen nach seinem Tod in die Beschreibung von Bergottes Tod eingefügt werden können. Becketts Endspiel, meinte Adorno, führe diese Absicht aus "wie das Mandat aus einem Testament". Bis heute ist dies die plausibelste Lesart des Endspiels.

    "Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende. Ein Körnchen kommt zum anderen, eins nach dem anderen. Und eines Tages, plötzlich, ist es ein Haufen, ein kleiner Haufen, der unmögliche Haufen."

    Clov sagt das zu Beginn des Stücks, ein alter, gebrochener Mann, der nur noch mit größter Mühe gehen kann. Und er sagt es zu Hamm, ebenfalls alt und gebrochen, ein Blinder im Rollstuhl:

    "Kann es ... kann es überhaupt ein Elend geben, das erhabener ist als meines? Wahrscheinlich. Früher. Aber heute? Mein Vater? Meine Mutter? Mein Hund? Oh, ich kann mir wohl denken, dass sie so viel leiden, wie solche Wesen leiden können. Soll das aber heißen, dass unsere Leiden gleichwertig sind? Wahrscheinlich. Nein, alles ist absolut. Je größer man ist, umso erfüllter ist man. Und umso leerer. Clov ... Clov ... Clov ... Clov! Nein, ich bin allein. Was das für Träume waren, diese Wälder! Schluss damit, es wird Zeit, dass es endet, auch in diesem Unterschlupf."

    Der Unterschlupf ist ein in trübes Licht getauchter Innenraum ohne Möbel, neben Hamms Rollstuhl stehen zwei Mülltonnen darin, in denen Nagg und Nell hausen, die Eltern von Hamm, neben der Tür ein umgedrehtes Bild, und dann gibt es noch zwei hoch angebrachte Fenster, sodass Clov erst eine Leiter besteigen muss, um hinauszuschauen. Hamm bittet ihn, zu sagen, was er sieht, denn manchmal erinnert er sich, dass auch für ihn die Welt einmal geblüht hat, wenn er an Wälder denkt, an den Wind, der die Blätter der Bäume bewegt, an Licht in einem Zimmer, Wolken am Himmel oder an das Blau des Meeres. Clov steigt dann auf die Leiter und schaut zum Fenster hinaus, kann aber nichts sehen.

    "Mal sehen ... Nichts ... und wieder nichts ..."
    "Nichts rührt sich. Alles ist ..."
    "Ni ..."
    "Ich rede nicht mit dir. Alles ist ... alles ist ... alles ist was? Alles ist was?"
    "Was alles ist? In einem Wort? Das willst du wissen? Moment mal ... Schau noch mal raus ... Futsch! Na? Zufrieden?"
    "Schau zum anderen Fenster hinaus, das Meer ..."
    "Keine Möwen?"
    "Möwen!"
    "Und der Horizont? Nichts am Horizont?"
    "Was soll denn schon am Horizont sein?"
    "Und die Sonne?"
    "Keine."
    "Sie müsste eigentlich gerade untergehen. Schau genau hin."
    "Denkste."
    "Es ist also schon Nacht?"
    "Nein."
    "Was denn?"
    "Es ist grau. Grau!"
    "Grau! Sagtest du grau?"
    "Ein helles Schwarz, allüberall."
    "Du übertreibst. Bleib nicht hinter meinem Sessel, du machst mir Angst."
    "Warum diese Komödie, immer wieder?"

    Das Endspiel, ihren Untergang, ihr Sterben erleben Clov und Hamm in einer Endzeit, nach dem Untergang der Welt. Entstanden 1954 bis 1956 und 1957 uraufgeführt, also in der Hochzeit des französischen Existenzialismus – Beckett, in Dublin geboren, lebte schon lange in Paris-, hatte das Endspiel allerdings mit den kraftstrotzenden existenzialistischen Menschdefinitionen eines Jean Paul Sartre nichts im Sinn.

    Sartres These, die freie Wahl seiner selbst, die ein Mensch treffe, sei absolut identisch mit dem, was man sein Schicksal nenne. Jeder müsse nur seine Lebensbedingungen erkennen und aus einem Spielballsystem, in das jeder durch seine Herkunft hineingepresst werde, herauskommen, um sich selber zu schaffen, indem er das "Konkrete überschreite, was man aus ihm gemacht hat" – solcher Philosophie stand Becketts Stück konträr gegenüber. Oder man kann es auch wie Adorno lesen als Parodie auf den Existenzialismus, indem "von seinen Invarianten nichts übrig bleibt als das Existenzminimum":

    "Geschichte wird ausgespart, weil sie die Kraft des Bewusstseins ausgetrocknet hat, Geschichte zu denken, die Kraft zur Erinnerung. Das Drama verstummt zum Gestus, erstarrt mitten in den Dialogen. Von Geschichte erscheint bloß noch deren Resultat als Neige. Was bei den Existenzialisten zum Einfürallemal des Daseins sich aufplusterte, ist geschrumpft zur Spitze des Historischen, die abbricht."

    Wenn man Becketts Werk überhaupt auf ein philosophisches System festlegen will, müsste man eher eine Philosophie wie die Michel Foucaults heranziehen – es hat sogar fast den Anschein, als habe Foucaults Philosophie, wie sie zum Beispiel in seinem 1966 erschienenen Buch "Les mots et les choses" – deutsch: "Die Ordnung der Dinge" – aufscheint, wesentliche Energien aus einer Beckett-Lektüre gezogen. Nach Foucault ist der Mensch ein Wrack, das durch die Welt geistert, der Mensch nur als "Riss" in der "Ordnung".

    Die Sorge um den Menschen, die Sorgfalt, mit der das abendländische Denken ihn als lebendiges Wesen, als arbeitendes Individuum oder als sprechendes Subjekt zu definieren versucht habe, all das bedeutet für ihn "nur für die schönen Seelen das schließlich wiedergekommene Jahr eines menschlichen Reiches". Foucaults Spielart des Strukturalismus zielt darauf ab, all "jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren wollen, ohne sogleich zu denken, dass es der Mensch ist, der denkt, all diesen Formen linker und linkischer Reflexion" könne man nur "ein philosophisches Lachen entgegensetzen – das heißt: ein zum Teil schweigendes Lachen".

    Für Foucault ist klar, dass der Mensch dabei ist, zu verschwinden. Und er möchte dieses Verschwinden des Menschen, seinen Tod mitinszenieren und wettet sogar darauf, dass "der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand".

    Solches Verschwinden inszeniert auch Beckett, aber er ist noch radikaler und bringt auch die äußere Welt zum Verschwinden.

    Endspiel beschreibt die Innenwelt eines Albtraums. Es ist der Albtraum der letzten Menschen, die sich kastriert fühlen, sich gerade noch einmal an ihre Namen erinnern, aber schon die Erinnerungen an die Eltern, obwohl sie im gleichen Zimmer in Mülltonnen als Zombies vegetieren, sind seltsam undeutlich, sie erinnern sich ein wenig an ihre Kindheit und Jugend, auch an einige Träume, aber die sind weniger real als nur noch flackernde Gedankengestalten. Als Zuschauer oder Leser des Theaterstücks gerät man in ein Problemfeld von hochgradiger Unbestimmtheit, indem die Bilder ineinanderfließen, sich überlappen, neue Bedeutung bekommen und sich auch wieder entziehen. Der Desorientierungscharakter des Stücks ist von Beckett auf die Spitze getrieben:

    "Wir sind doch nicht etwas im Begriff, etwas zu ... zu ... bedeuten?"
    "Bedeuten? Wir, etwas bedeuten? Das ist ein Witz!"
    "Ich frage es mich ... Ich frage es mich ... Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen?"

    Das Innere des Albtraums, das Chaos und die tiefe Sinnlosigkeit zeigt Beckett, indem sein Stück von der Form her selbst ein Chaos ist. Nichts als ein Trümmerhaufen aus Motiven. Wenn man Unordnung definiert als einen Zustand, in dem gleichermaßen wahrscheinlich ist, dass der Kamm in der Bürste und in der Butter steckt, dann ist das eine genaue Beschreibung der Verbindungen der Bilder und Wörter und Dinge in diesem Theaterstück. Deshalb kann alles in alles übergehen. Es sind permanente Metamorphosen von Ernst und Unernst, von Kitsch und Poesie, von Parodie und schrecklicher Wahrheit und alles in Form von Trümmern. Man kann es fast nicht noch viel weiter treiben als Beckett es getan hat, weil dann nichts anderes entstehen würde als das einstige Flimmern auf dem Fernsehschirm nach Programmschluss.

    Auch hier wie in Becketts gesamtem Werk das Thema, dass Menschen an den Rand ihrer Gewissheiten geraten – und angesichts der untergegangenen Außenwelt und in ihrem inneren Gefängnis gezwungen sind, ihren eigenen Wahnstimmen zu lauschen. Der Traum, der sich in der Wahnstimme verbirgt, die Sehnsucht, endlich "weggehen" zu können und das alles "zu Ende" ist, ist letztlich der Wunsch, dass durch die eigene Wahnstimme eine künstliche Stille hergestellt wird, in der das Leben zur Ruhe kommen kann. Aber vorher bitte noch ein wenig weiterreden.

    "Sag noch etwas, vorm Weggehen."
    "Es ist nichts zu sagen."
    "Ein paar Worte ... über die ich nachsinnen könnte ... in meinem Herzen."
    "Man sagte mir immer: Ja, ja, das ist Liebe, doch, doch, glaub es nur, wie du siehst, ist es ..."
    "Sprich deutlich"
    "Ist es gar nicht so schwer. Man sagte mir: Ja, ja, das ist die Freundschaft, doch, doch, ganz bestimmt, du brauchst nicht weiter zu suchen. Man sagte mir: Da, bleib stehn, Kopf hoch, schau Dir diese Herrlichkeit an. Diese Ordnung! Man sagte mir: Nur zu, du bist doch kein Tier, bedenke diese Dinge, und du wirst schon sehen, wie klar alles wird. Wie einfach! Aber ich fühle mich zu alt und zu weit weg, um neue Gewohnheiten annehmen zu können. Gut, es wird also nie enden, ich werde also nie gehen. Dann, plötzlich, eines Tages, endet es, verändert es sich, ich verstehe es nicht, stirbt es ... oder bin ich es, der stirbt, ich verstehe es nicht, auch das nicht. Ich frage es die Worte, die übrigbleiben – Schlaf, Wachen, Abend, Morgen. Sie können nichts sagen. Ich öffne die Tür der Zelle und gehe fort. Ich gehe so gebeugt, dass ich nur meine Füße sehe, wenn ich die Augen öffne, und zwischen meinen Füßen ein wenig schwärzlichen Staub. Ich sage mir, dass die Erde erloschen ist, obgleich ich sie nie brennen sah. Es geht von selbst. Wenn ich falle, werde ich weinen ... vor Glück."

    Was Clov in dem Moment erleben wird, weiß Hamm:

    "Die Unendlichkeit der Leere wird dich umgeben, alle auferstandenen Toten aller Zeiten würden sie nicht ausfüllen, du wirst darin wie ein kleiner Kiesel mitten in der Wüste sein, ja."

    Die Überblendung von individuellem und kollektivem Unglück, die Zusammenführung von privatem Leid mit der Erinnerung an die Toten, die zum Beispiel in den Massengräbern des Zweiten Weltkriegs liegen, lässt daran denken, dass das Endspiel knapp zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurde. Deshalb las Adorno das Stück als Fixierung des historischen Augenblicks, in dem alles, auch die scheinbar wieder auferstandene Kultur, zerstört sei, ohne dass man sich dessen bewusst sei. Adornos Kommentar aus dem Jahr 1961 war sehr nahe an den geistig-historischen Bedingungen, unter denen das Endspiel entstand. Beckett, notierte Adorno,

    "benutzt Gedanken sans phrase als Phrasen, Teilmaterialien des monologischen intérieur, zu denen Geist selber wurde, dinghafter Rückstand von Bildung. Hat der Vor-Beckettsche-Existenzialismus, wie, wenn er der leibhaftige Friedrich Schiller wäre, Philosophie als poetischen Vorwurf ausgeschlachtet, so präsentiert Beckett, gebildeter als irgendeiner, ihm die Rechnung: Philosophie, Geist selber deklariert sich als Ladenhüter, traumhafter Abhub der Erfahrungswelt und der dichterische Prozess als Verschleiß. Die Menschheit vegetiert kriechend fort nach Vorgängen, welche eigentlich auch die Überlebenden nicht überleben können, auf einem Trümmerhaufen, dem es noch die Selbstbesinnung auf die eigene Zerschlagenheit verschlagen hat. Die Gewalt des Unsäglichen wird nachgeahmt von der Scheu, es zu erwähnen. Beckett hält es nebulös. Über das aller Erfahrung Inkommensurable lässt nur euphemistisch sich reden, so wie man in Deutschland von der Ermordung der Juden spricht. Es ist zum totalen Apriori geworden, sodass das zerbombte Bewusstsein keinen Ort mehr hat, von dem aus es darauf sich besinnen könnte."


    "Die Natur hat uns vergessen."
    "Wir atmen doch, wir verändern uns! Wir verlieren unsere Haare, unsere Zähne! Unsere Frische! Unsere Ideale!"

    Wenn das Leben sich aus einem Körper zurückzieht und ein Mensch gleichwohl versucht, mit all seinen individuellen Lebensfähigkeiten dem Tod doch noch ein Schnippchen zu schlagen, indem die Organismen des Körpers als komplizierte Erfindungen überall noch eine Lebensmöglichkeit suchen, so tut der unausweichliche Tod nichts anderes, als aus all diesen vielen interessanten Differenzierungen die gleichmäßige Materie wiederherzustellen, sodass die totale Vereinfachung eintritt, wenn die Hirnstromkurven zusammenfallen und flach werden, bis sie nur noch ein Strich sind – die Null-Variante.

    Der Tod löscht in diesem Sinne die Differenz zur Umwelt, indem er die Differenzen verwischt und die Organismen sich mit der unbelebten Natur, die Clov draußen registriert, verschmelzen.

    Das ist die Spielvorlage, die Becketts Stück ausbreitet. Und als Spiel wollte Beckett sein Stück immer verstanden wissen. Als er es 1967 im Berliner Schiller-Theater selbst inszenierte, sagte er den Schauspielern:

    "Psychologisch, moralisch ist in dem Stück nichts zu machen, man kann es nur im Spiel erfahren. Es handelt sich darin nicht um Philosophie, vielleicht um Poesie. Das Stück interessiert hier ausschließlich als Spielvorlage."

    Das ganze Leben ist ein Spiel. Und von den Regeln haben die Personen nur eine düstere Ahnung. Gewiss ist nur, dass das Spiel zum Scheitern verurteilt ist.

    "Also, ich bin dran. Altes, von jeher verlorenes Endspiel. Schluss damit, nicht mehr verlieren."

    Becketts Personen leben im Endstadium, sind schon weniger differenzierte Individuen als vielmehr nur noch hilflose Körper, wenn sie ihren Körper auch noch spüren, ein Klopfen im Herzbereich, ein Pochen im Kopf.

    "Wenn ich träumte, würde ich vielleicht mit einer Frau schlafen. In die Wälder gehen ... in die Wälder gehen. Sehen ... den Himmel, die Erde! Ich würde vielleicht laufen! Verfolgt werden! Fliehen! ... Natur, Natur ... Es tropft, es tropft in meinem Kopf. Es ist ein Herz, ein Herz in meinem Kopf."

    Wenn die Außenwelt verschwunden ist, beginnen die inneren Stimmen zu reden. Es kann ziemlich wirres Zeug sein, was eine Person dann sagt. Und im Endspiel wird manchmal ziemlich wirres Zeug geredet, das Stück führt in Rudimenten den inneren Bewusstseinstrom der Personen als einen Prozess des Ver- und Zerfließens vor, diese Personen sind sehr molluskenhaft, Weichtiere, ohne feste Grenzen, sie schwimmen in den vage erinnerten Ereignissen ihres Lebens herum und werden auch überschwemmt.

    Das Endspiel zeigt das Leben als Stückwerk, als Sammelsurium von einigem Notwendigen und viel Zufälligem, das für das Unkalkulierbare des Lebens steht, das Nicht–Dazugehörige und Kompakte, was sich einem in den Weg wirft und an einen hängt. Das Leben – eine lächerliche Illusion.

    Von allen Bewegungen, die jemand in seinem Leben durchgeführt hat, sind am Ende nur noch Gesten übrig geblieben. Werden die Personen einmal von fernen Erinnerungen angeweht, erscheinen sie erfroren in der Kälte ihres Charakters, eingesperrt in eine Mechanik, die jeder Willensfreiheit entgegensteht und eher von einer Selbstzerstörungslust zeugt.

    Ist der Mensch, so lautet die Grundfrage des "Endspiels", nicht bloß ein unglücklich operierender Apparat? Wenn man ihn aufschneidet, kann es nicht sein, dass darin nichts ist, absolut nichts? Stößt man da nicht notwendigerweise auf die Leere des Menschen? Wer hat nicht einmal in seiner Kinderzeit eine Puppe aufgeschnitten und war enttäuscht und vielleicht sogar entsetzt, dass nur Holzwolle herauskam? Wenn man den Menschen aufschneidet, sieht man zwar vielleicht noch eine mehr oder weniger komplizierte Mechanik, also die ganze Verkabelung. Aber lohnt sich darüber zu reden und könnte man es? Sind Menschen nicht immer sehr begrenzt und stößt man, wenn man in sie eindringt, nicht notgedrungen ins Leere vor?

    "Seid ihr noch nicht am Ende? Kommt ihr nie zu Ende? Es nimmt also kein Ende? Worüber können sie denn reden, worüber kann man noch reden?"

    Wie kann man die Geschichte eines Lebens erzählen? Man kann es nicht, antwortet Beckett, indem man nachträglich eine Ordnung erfindet, um einem Leben eine Interpretation überzustülpen und so vielleicht die Zufälligkeit des Lebens widerlegen zu können. Beckett rückt eher die Verrücktheiten in den Blick, in denen sich Menschen verstricken, um ins Leben hineinzukommen oder wenigstens das Gefühl zu bekommen, sie befänden sich mitten im Leben.

    Um das, was die Personen als unerträglich Fremdes in sich tragen und was sie mit der Welt und den anderen Menschen in ihrem Leben nicht in Einklang bringen konnten, erkennen und so auch den Unterschied zu den anderen wahrnehmen zu können, müsste man sich aber erst einmal der eigenen Verrücktheit gegenüberstellen und sie anschauen. Verrückt sind im Endspiel aber immer nur die anderen.

    "Ich habe einmal einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt wäre gekommen. Er malte Bilder. Ich hatte ihn gern. Ich besuchte ihn oft in der Anstalt. Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn ans Fenster. Sieh doch mal! Da! Die aufgehende Saat! Und da! Sieh! Die Segel der Sardinenboote. Wie schön das alles ist! Er riss seine Hand los und rannte wieder in seine Ecke zurück. Er hatte nur Asche gesehen. Er allein glaubte sich verschont. Vergessen. Der Fall ist anscheinend ... der Fall ... war gar kein Einzelfall."
    "Clov."
    "Ja."
    "Meinst du nicht, dass es lange gedauert hat?"
    "Doch! Was?"
    "Dies ... alles."
    "Das hab' ich schon immer gedacht. Du nicht?"
    "Es ist also ein Tag wie jeder andere."
    "So lange er dauert. Lebenslänglich dieselben Albernheiten."

    Er liebe die alten Fragen, antwortet Hamm Clov an einer anderen Stelle, ach, die alten Fragen, die alten Antworten, da gehe nichts drüber. Aber die alten Fragen, sagt Beckett im Endspiel, können nicht mehr so wie früher gestellt werden, sodass auch die alten Antworten nicht mehr passen. Adorno hat Becketts Leistung auf den Punkt gebracht:

    "Die Katastrophen, die das Endspiel inspirieren, haben jenen Einzelnen aufgesprengt, dessen Substantialität und Absolutheit das Geheimsame zwischen Kierkegaard, Jaspers und der Sartreschen Version des Existentialismus war. Diese hatte noch dem Opfer der Konzentrationslager die Freiheit bescheinigt, was an Marter ihm angetan wird, innerlich anzunehmen oder zu verneinen. Das Endspiel zerstört derlei Illusionen. Der Einzelne selbst ist als geschichtliche Kategorie Resultat des kapitalistischen Entfremdungsprozesses und trotziger Einspruch dagegen, als ein wiederum Vergängliches offenbar geworden. Die individualistische Position gehörte polar zum ontologischen Ansatz eines jeglichen Existentialismus, auch dessen von (Martin Heideggers) Sein und Zeit. Becketts Dramatik verlässt sie wie einen altmodischen Bunker."

    "Das Ende ist schon im Anfang, und doch macht man weiter. Ich werde da sein, in diesem alten Unterschlupf, allein gegen die Stille ... allein gegen die Starre. Wenn ich schweigen kann und ruhig bleiben, wird es aus sein mit jedem Laut und jeder Regung ... Ich werde dann meinen Vater gerufen haben ... Und dann? Und dann? Und dann? ... Alle möglichen Fantasien, einer, der auf mich lauert, eine Ratte, Schiff, Augen, man hält den Atem an und dann ... Reden, reden, reden, schnell, wie das einsame Kind, das sich in mehrere verwandelt, um nicht allein zu sein, in Gesellschaft zu sein, und mit jemandem reden zu können, in der Nacht. Ein Augenblick kommt zum anderen, und lebenslänglich wartet man darauf, wartet man darauf, dass ein Leben daraus werde."

    Die Ingredienzien, die Becketts Stück als Endzeit-Fantasie und als Fragen mitformulieren, kann man wahrscheinlich alle gar nicht aufschlüsseln. Zum Beispiel die Frage: Wieviel Zeit braucht man, um notfalls akzeptieren zu können, dass man stirbt. Aber es geht nicht nur um Probleme der Zeit. Es geht auch um Probleme des Festhaltens oder Aufgebens von Hoffnung. Eine andere Frage: Wie setzt man sich mit der skandalösen Tatsache auseinander, dass nach dem Gesetz des Zufalls der eine dieses Lebenslos bekommt und der andere jenes. Wie geht man mit dem Problem um, dass die einmalige Chance des Lebens so ungleich bemessen wird, wie geht man mit der Zufälligkeit von Glück und Unglück um, wie mit der Kontingenz?

    Fragen, die man letztlich gar nicht beantworten kann, weil in jeder Antwort immer auch eine unlebbare Konsequenz steckt. Vielleicht deshalb hat Beckett eine analytische Interpretation seines Endspiels immer verweigert. Die einzige Interpretation gab er mit seiner Inszenierung des Stücks 1967 im Berliner Schiller-Theater. Michal Haerdter, damals Dramaturg des Theaters, hat einen Bericht von den Proben überliefert. Pathos sei der Tod des Stückes, sagte Beckett den Schauspielern. Und:

    "Ich möchte, dass in diesem Stück viel gelacht wird. Es ist ein Spielstück."

    Da ist wieder das philosophische Lachen, das auch Michel Foucault eingefordert hat, als ein zum Teil schweigendes Lachen. Komisch-groteske Stellen zum Lachen gibt es im Stück auch reichlich. Der Hund Hamms ist ein schwarzes, demoliertes Stofftier. Auch der Krieg, den Clov und Hamm miteinander führen, bekommt etwas Komisches. Clov solle ihn endlich töten, bittet Hamm.

    "Warum tötest Du mich nicht?"
    "Ich weiß nicht, wie der Speiseschrank aufgeht."

    Einmal hat Nell, die Mutter Hamms, in ihrer Mülltonne einen kurzen Auftritt:

    "Warum lachst du immer darüber?"
    "Nicht so laut ..."
    "Nichts ist komischer als das Unglück, das gebe ich zu, aber doch, doch ..."

    Da unterbrach Beckett die Probe:

    "Für mich ist das der wichtigste Satz im Stück."


    Da unterbrach Beckett sich selbst aber, denn er wollte offenkundig nicht, dass einer Symbolik im Endspiel nachgespürt wurde. Aber die Schauspieler wollten natürlich wenigstens ahnungsweise verstehen, was sie da sagten und spielten. Und manchmal kam Beckett auch aus sich heraus, erzählt Michael Haerdter in seinem Probebericht. Was es mit den "Hirsekörnern" auf sich habe?


    "Das sind die Hirsekörner des Sophisten Zenon, ein logischer Witz."

    "Beckett kehrt den Akademiker hervor und zählt mit offenbarem Vergnügen die Antinomien des Eleaten auf – Achill, der die Schildkröte nicht einholen kann, der in der Luft stehende Pfeil. Und was ist hier gemeint?"

    "Der "unmögliche Haufen" von Clov. Was ist ein Haufen. Es kann ihn gar nicht geben, denn ein Körnchen ist kein Haufen, zwei sind es auch nicht: Ein Nicht-Haufen + ein Nicht-Haufen ergeben keinen Haufen, und so fort ... Ergo: Das Körnchen muss der Haufen sein."

    "Zenons Satz, der das Geräusch fallender Körner zum Gegenstand hat, ist hier also variiert. Beckett grinst zufrieden. Er hat nur eine Formel genannt und nichts verraten. Oder doch? Indem er sie auf die Zeit anwendet, gibt Beckett der zenonischen Paradoxie die Würze beißender, decouvrierender Ironie. Augenblick und Ewigkeit treffen sich in einem Punkt. Die Zeit ist in eine Vielzahl von Augenblicken aufgelöst, in einem einzigen erstarrt. Ein Werden kann es nicht geben. Nur ein Weitermachen. Die Formel dafür ist "Spiel". Aber "Spiel" ist so wenig denkbar wie "Zeit". Es ist, wie diese, Sinnenschein, und damit Nicht-Sein. Das wäre etwa der Schluss nach eleatischer Logik. Nach Beckettscher auch?"


    Die Antwort gibt Hamm:

    "Ich bin nie dagewesen."
    "Hast du Schwein gehabt."
    "Abwesend, immer abwesend und dann nichts ... Augenblicke gleich Null, die immer gleich Null sind, und doch zählen, damit die Rechnung aufgeht, und die Geschichte endet."