Archiv


Sanfte Schönheit in der Musik

Der Wahl-Berliner David Lemaitre stammt aus Bolivien. Seine Musik, ein Mix aus experimentellem Folk, eingängigen Melodien und reduzierter Elektronik, bezeichnet er selbst als "orchestralen Schlafzimmerpop". Auf seinem neuen Album "Latitude" finden sich hervorragende Kompositionen.

Von Ronald Strehl |
    "Bei jedem Familientreffen hat meine Mutter die Gitarre rausgeholt und unglaublich viel gesungen. Mein Vater war riesiger Fan von 70er Rock und Folk. Und das ist so ein bisschen, was mich geprägt hat gemischt mit der südamerikanischen Musik von meiner Mum."

    Die Familienfeiern, von denen David Lemaitre hier spricht, haben in La Paz, der Hauptstadt Boliviens, stattgefunden. Dort ist der heute 28-jährige Sohn einer chilenischen Künstlerin und eines bolivianischen Ingenieurs groß geworden. Mit elf bekam er von seiner Mutter eine Akustikgitarre. Auf der schrieb er erste eigene Songs, damals noch auf Spanisch. Nach dem Abitur an der Deutschen Schule in La Paz zog David Lemaitre nach Deutschland, um hier zu studieren. So hatte es zuvor auch sein Vater gemacht. Ein Studium der Elektrotechnik in Dortmund brach er allerdings ab, um sich ganz der Musik zu widmen: David Lemaitre jobbte als Tontechniker, studierte kurz Jazz und belegte Kurse an der Popakademie in Mannheim. Vor drei Jahren zog er dann schließlich nach Berlin.

    "Ich brauche relativ lange, um einen Song fertig zu schreiben. Und ich liebe es, kleine Instrumente reinzubringen. Wir haben Münzen aufgenommen, Flaschen gesamplet, statt Schlagzeug haben wir einen Reisekoffer genommen. Ich mache jetzt eigentlich gar keine elektronische Musik. Aber trotzdem ist der Einfluss von diesem mehrschichtigen und detailorientierten Produzieren etwas, was mich sehr fasziniert hat."

    Ob am Computer erzeugt oder manchmal mit seinen zwei festen Begleitmusikern wie ein fröhliches Schulorchester selbst aufgenommen: Verspielte Polyrhythmen verleihen dem im Prinzip klassischen Singer-Songwriter-Folkpop von David Lemaitre die besondere, exotische Note. Zweites auffälliges Merkmal sind geschmackvolle Streicher-Arrangements, die an die berühmte Arbeit von Robert Kirby für die 70er-Jahre-Songwriter-Legende Nick Drake erinnern.

    Nicht nur als Musiker ist David Lemaitre viel unterwegs: Freunde und Verwandte sind auf der ganzen Welt verstreut, seine Eltern wohnen inzwischen in den USA. Deshalb hat er für sein Debütalbum den mehrdeutigen Titel "Latitude" ausgesucht. "Latitude" bedeutet soviel wie "Breitengrad" aber auch "Weite".

    "Das spielt sehr viel mit der geografischen Entfernung zu dem Ort meiner Herkunft und zu vielen Menschen, die mir wichtig sind. Aber spielt auch ein wenig mit der Distanz zu Leuten, die uns wichtig sind in zwischenmenschlichen Beziehungen. Wie oft jemand, der uns unglaublich nahe ist, halt auch weit weg sein kann. Dieses Thema taucht immer wieder auf in unterschiedlichen Weisen."

    Als Hauptinspiration für seine bittersüßen Texte über Einsamkeit und Sehnsucht nennt David Lemaitre übrigens keinen Musiker, sondern die amerikanische Autorin Sylvia Plath, die 1963 im Alter von nur 30 Jahren Selbstmord beging. Besonders angetan ist er von ihren ebenso formschönen wie bedrückenden Gedichten.

    "Es scheint einfach Personen zu geben, die schneller brennen. Und das ist etwas, was mich unendlich fasziniert hat. Nicht unbedingt das Ende davon, sondern dieses Brennen, und woher das kommt."

    "Latitude" ist voller hervorragender Kompositionen, und von dem Album geht eine Art sanfte Schönheit aus, die einen schnell in den Bann zieht. Anders auf der Bühne: Da will es bisher noch nicht so ganz gelingen, den Zauber der Aufnahmen adäquat umzusetzen. Lemaitre und seine zwei Begleitmusiker scheinen manchmal etwas überfordert, wenn sie die komplexen Soundschichten nur zu dritt reproduzieren sollen. Trotzdem möchte man den schlanken Bolivianer mit den schwarzen Locken sofort in sein Herz schließen, wenn man ihn auf der Bühne sieht. Anders als seine Musik vermuten lässt, ist David Lemaitre überhaupt kein verschlossener Typ.

    "Ich bin eher extrovertiert und eigentlich auch ein fröhlicher Mensch. Aber es liegt viel Schönheit in der Melancholie, und das ist etwas, was in der Musik automatisch herauskommt. Das ist kein bewusster Vorgang. Ich nehme mir auch nicht vor, was ich für eine Art von Musik mache, sondern eher das Gegenteil. Ich versuche, so wenig drüber nachzudenken, wie möglich."