Es ist ein kaum überschaubares, riesiges und unförmiges Gebilde aus Häusern und Straßen, das sich unterhalb der Flugzeugfenster auftut. Der Philosoph Vilém Flusser hat es immer wieder beschrieben, immer wieder darüber nachgedacht. Er selbst hat mehrere Jahrzehnte seines Lebens in der Megalopolis Sao Paulo verbracht und betrachtete die Stadt als eine Art Prophezeiung für die Entwicklung der modernen Gesellschaft. Für viele andere aber ist Sao Paulo mit seinen 18 Millionen Einwohnern, seinen unglaublichen Verkehrsproblemen, seiner Kriminalität, seinen geschätzten 350 illegalen Müllkippen und seiner Armut erst einmal der ganz alltägliche Horror einer Megacity..
Die Stadt, in der ich lebe, macht mir angst. Ich kenne niemanden, der nicht schon ein paar Mal überfallen worden wäre. Man traut sich einfach nachts nicht mehr allein auf die Straße. Leute mit Kindern ziehen weg,...
...berichtet Fernando. Er verdient sein Geld als Künstler, aber ein Blick in seine Wohnung verrät, dass er nicht gerade zu den Ärmsten der Stadt gehört. In einem schon etwas älteren, das heißt etwa zwanzig Jahre alten Hochhaus in einem der gepflegteren Viertel, hat er seine durchaus ansehnlich Behausung: hundert Quadratmeter im 16. Stock, für umgerechnet 450 Euro, das ist viel Geld in Brasilien. Ein Teil dient als Atelier, in dem seine Gemälde stehen. Tatsächlich scheint es so zu sein, wie Fernando berichtet, dass die Zeiten ungebremsten und ungesteuerten Wachstums der Stadt vorbei sind. Viele ziehen weg aus dem Kernstadtbereich. Aber sie ziehen nicht ganz weg, sie siedeln einfach rund um Sao Paulo an, wo immer neue Trabantenstädte entstehen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das Stadtgebiet mit diesen neuen Gebilden zusammenschließt. So gesehen hat die Stadt schon heute nicht nur 18, sondern 25 Millionen Einwohner. Und Fernando fährt fort:
Es ist nicht so leicht, hier in Sao Paulo ein soziales Leben zu führen. Es gibt keine öffentlichen Orte, nichts, wo man sich bei schönem Wetter hinsetzen und einfach mal mit anderen treffen kann. Es bleiben einem nur die Kneipen. Das hängt mit der Geschichte der Stadt zusammen, oder besser mit ihrer Geschichtslosigkeit. Sao Paulo hat sich so schnell entwickelt... es ist wirklich ein einziger Wildwuchs von Straßen und Häusern. Es gibt keine Struktur, keine Stadtplanung.
Es heißt, bis vor gar nicht langer Zeit konnte jeder, der genug Geld hatte, in Sao Paulo abreißen und bauen, wo er wollte. Man brauchte keine Genehmigungen, es gab auch keine Bebauungspläne oder Grundbücher. Und so sieht es bis heute vielerorts auch aus in der Stadt. Sao Paulo, das bedeutet: eine ganze Stadt als einzige Peripherie. Kein wirkliches Zentrum. Wenige Viertel haben eine unverwechselbare Atmosphäre, so wie das alte, heruntergekommene Arbeiterviertel Brás mit seinen alten Fabriken und niedrigen Mietshäusern - oder wie Liberdade, wo sich die große Zahl japanischer Einwanderer niedergelassen hat. Üblicherweise aber besteht die Bebauung aus eher niedrigen Häusern, zwischen denen unkontrolliert immer neue, manchmal beängstigend schmale Hochhäuser emporschießen. Manchmal geht den Bauherren das Geld aus, immer wieder sieht man verwahrloste, gigantische Rohbauten in der Landschaft stehen. Ständig verändern sich die Viertel aufs neue. Ständig wir neu gebaut, abgerissen, ständig scheint die Stadt auf der Wanderschaft. Mit Erika Schemann, einer deutsch-stämmigen Fremdenführerin, fahre ich weit hinaus in die Vororte, wo sich kilometer-weit einfache Ziegelbauten hinziehen ohne Fenster und ohne befestigte Straßen...
Viele dieser Favelas sind noch recht neu. Sie entstehen dann, wenn irgendwo in der Stadt ein Gelände geräumt wird, auf denen Slums waren. Den Bewohnern wird das heute meist wenigstens rechtzeitig angekündigt. Früher kamen die einfach mit Bulldozern und fingen an, die Hütten abzuräumen. Heute können die Leute versuchen, ihre Hütten selber abzubauen und woanders wieder aufzurichten. Gegenwehr hätte keine Chance, die Brutalität der Polizei ist hier wirklich nicht zu unterschätzen.
Das Szenario eines chaotischen Molochs, der ausschließlich von globalisierten Kapitalinteressen zusammengehalten wird und in dem es den Kampf jeder gegen jeden gibt, mit brutalen Abgrenzungen der Reichen gegen die Armen – dieses Szenario wurde immer wieder beschworen, gleichsam als Menetekel einer Stadt der Zukunft, Sinnbild einer anarchistischen neuen Wirklichkeit, die vielen als Bedrohung humanistischer Werte erscheint.
Sao Paulo erscheint mir eher wie eine Stadt im World Wide Web, die mehr durch ihre Links als durch ihre Festkörper geprägt ist...
....schrieb kürzlich ein Beobachter der Szene und brachte damit wohl am besten jene Phobien auf den Punkt, die ein solcher Koloss bei nicht wenigen auslöst: das Unüberschaubare, scheinbar Ungeordnete und Beliebige, die Entwertung menschlicher Werte, die Anonymität...alles das waren, wir erinnern uns, auch die Weltuntergangsängste, die in den achtziger Jahren den sich global verbreitenden Technologien der Computer und des Internet entgegenschlugen - ehe die sich dann plötzlich auch für ihre ehemaligen Gegner als einigermaßen nützlich erwiesen. Ganz ähnlich verhält es sich scheinbar mit dem Moloch Sao Paulo. Denn wer einmal dorthin kommt, wird möglicherweise überrascht sein, dass diese Stadt durchaus ihre Qualitäten hat, Qualitäten, die weit über das hinausgehen, was so manche europäische Möchtegernmetropole bietet. Fernando, der Maler, weiß daher auch, warum er bisher noch geblieben ist:
Sao Paulo ist ein riesiger Schmelztiegel. Ständig lernt man neue und andere Leute kennen. Das hier ist nicht nur eine Metropole der Kapitalisten. Wir haben auch die zweite, die dritte, die vierte Welt in der Stadt. Es gibt Vororte, in denen noch Indianer leben. Sao Paulo besteht aus völlig verschiedenen Gesellschaften gleichzeitig. Und man geht miteinander um, es gibt keine Rassenunruhen. Mein Freundeskreis setzt sich aus allen möglichen Hautfarben und Religionen zusammen. Und es ist kein Problem.
"Anthropofagia" nennt man in Brasilien diese erstaunliche Fähigkeit, miteinander auszukommen, alles Fremde und andere mit einer uns Europäern so unheimlichen Selbstverständlichkeit aufzunehmen. Überall wird man angesprochen, ob in der Metro oder beim Essen im Restaurant. Es gibt eine grundsätzliche Neugier an Deiner Geschichte. Und vielleicht ist es ja gerade das Fehlen großer öffentlicher Plätze, einer vorgegebenen Struktur, die die Menschen hier dazu anhält, sich ihre eigene, private Öffentlichkeit zu suchen. Die Stimmung ist so warm wie das Klima. Und manche, die länger in der Stadt zugebracht haben, berichten, das Leben dort kann süchtig machen, süchtig nach den Kontakten, nach de Freunden, nach der Gemeinschaft. Welch ein Kontrast zu Europa, und welch ein Effekt für eine Stadt, der man in Europa üblicherweise jede soziale Komponente abspricht. Und wohl auch dies hatte ein Vilém Flusser im Sinn, als auch er Sao Paulo zur Stadt der Zukunft erkor. - Allmählich scheinen sich auch die Heerscharen wohlmeinender Stadtverbesserer überzeugen zu lassen, die seit Jahrzehnten Masterpläne und Lösungen diskutieren: Dass man eine Stadt nicht einfach mit einigen Patentrezepten "humanisieren", sprich: europäisieren kann, und schon gar nicht Sao Paulo. Viele Paulistanos verbindet eine Hassliebe mit ihrer Stadt. Sie sehen und erleben täglich die Probleme, auch die Armut neben den grotesken Dollarburgen der Reichen. Niemand kann und wird das schön reden. Doch es bringt wenig, verrottete Industriebrachen zu Kulturzentren zu machen, denn so viel Kultur kann es in einer Stadt gar nicht geben, wie hier Platz dafür zur Verfügung stünde. Es macht keinen Sinn, alte Arbeiterviertel mit Vergnügungsparks aufzupeppen, wenn die sich ohnehin nur die Wohlhabenden leisten können. Wer ehrlich ist, sieht, dass die wahren Herausforderungen der Stadt, die Armut und die Verkehrsprobleme im Grunde unbezahlbar sind. Sie zu lösen: das hieße tatsächlich eine neue Weltordnung schaffen.
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570.html
Die Stadt, in der ich lebe, macht mir angst. Ich kenne niemanden, der nicht schon ein paar Mal überfallen worden wäre. Man traut sich einfach nachts nicht mehr allein auf die Straße. Leute mit Kindern ziehen weg,...
...berichtet Fernando. Er verdient sein Geld als Künstler, aber ein Blick in seine Wohnung verrät, dass er nicht gerade zu den Ärmsten der Stadt gehört. In einem schon etwas älteren, das heißt etwa zwanzig Jahre alten Hochhaus in einem der gepflegteren Viertel, hat er seine durchaus ansehnlich Behausung: hundert Quadratmeter im 16. Stock, für umgerechnet 450 Euro, das ist viel Geld in Brasilien. Ein Teil dient als Atelier, in dem seine Gemälde stehen. Tatsächlich scheint es so zu sein, wie Fernando berichtet, dass die Zeiten ungebremsten und ungesteuerten Wachstums der Stadt vorbei sind. Viele ziehen weg aus dem Kernstadtbereich. Aber sie ziehen nicht ganz weg, sie siedeln einfach rund um Sao Paulo an, wo immer neue Trabantenstädte entstehen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das Stadtgebiet mit diesen neuen Gebilden zusammenschließt. So gesehen hat die Stadt schon heute nicht nur 18, sondern 25 Millionen Einwohner. Und Fernando fährt fort:
Es ist nicht so leicht, hier in Sao Paulo ein soziales Leben zu führen. Es gibt keine öffentlichen Orte, nichts, wo man sich bei schönem Wetter hinsetzen und einfach mal mit anderen treffen kann. Es bleiben einem nur die Kneipen. Das hängt mit der Geschichte der Stadt zusammen, oder besser mit ihrer Geschichtslosigkeit. Sao Paulo hat sich so schnell entwickelt... es ist wirklich ein einziger Wildwuchs von Straßen und Häusern. Es gibt keine Struktur, keine Stadtplanung.
Es heißt, bis vor gar nicht langer Zeit konnte jeder, der genug Geld hatte, in Sao Paulo abreißen und bauen, wo er wollte. Man brauchte keine Genehmigungen, es gab auch keine Bebauungspläne oder Grundbücher. Und so sieht es bis heute vielerorts auch aus in der Stadt. Sao Paulo, das bedeutet: eine ganze Stadt als einzige Peripherie. Kein wirkliches Zentrum. Wenige Viertel haben eine unverwechselbare Atmosphäre, so wie das alte, heruntergekommene Arbeiterviertel Brás mit seinen alten Fabriken und niedrigen Mietshäusern - oder wie Liberdade, wo sich die große Zahl japanischer Einwanderer niedergelassen hat. Üblicherweise aber besteht die Bebauung aus eher niedrigen Häusern, zwischen denen unkontrolliert immer neue, manchmal beängstigend schmale Hochhäuser emporschießen. Manchmal geht den Bauherren das Geld aus, immer wieder sieht man verwahrloste, gigantische Rohbauten in der Landschaft stehen. Ständig verändern sich die Viertel aufs neue. Ständig wir neu gebaut, abgerissen, ständig scheint die Stadt auf der Wanderschaft. Mit Erika Schemann, einer deutsch-stämmigen Fremdenführerin, fahre ich weit hinaus in die Vororte, wo sich kilometer-weit einfache Ziegelbauten hinziehen ohne Fenster und ohne befestigte Straßen...
Viele dieser Favelas sind noch recht neu. Sie entstehen dann, wenn irgendwo in der Stadt ein Gelände geräumt wird, auf denen Slums waren. Den Bewohnern wird das heute meist wenigstens rechtzeitig angekündigt. Früher kamen die einfach mit Bulldozern und fingen an, die Hütten abzuräumen. Heute können die Leute versuchen, ihre Hütten selber abzubauen und woanders wieder aufzurichten. Gegenwehr hätte keine Chance, die Brutalität der Polizei ist hier wirklich nicht zu unterschätzen.
Das Szenario eines chaotischen Molochs, der ausschließlich von globalisierten Kapitalinteressen zusammengehalten wird und in dem es den Kampf jeder gegen jeden gibt, mit brutalen Abgrenzungen der Reichen gegen die Armen – dieses Szenario wurde immer wieder beschworen, gleichsam als Menetekel einer Stadt der Zukunft, Sinnbild einer anarchistischen neuen Wirklichkeit, die vielen als Bedrohung humanistischer Werte erscheint.
Sao Paulo erscheint mir eher wie eine Stadt im World Wide Web, die mehr durch ihre Links als durch ihre Festkörper geprägt ist...
....schrieb kürzlich ein Beobachter der Szene und brachte damit wohl am besten jene Phobien auf den Punkt, die ein solcher Koloss bei nicht wenigen auslöst: das Unüberschaubare, scheinbar Ungeordnete und Beliebige, die Entwertung menschlicher Werte, die Anonymität...alles das waren, wir erinnern uns, auch die Weltuntergangsängste, die in den achtziger Jahren den sich global verbreitenden Technologien der Computer und des Internet entgegenschlugen - ehe die sich dann plötzlich auch für ihre ehemaligen Gegner als einigermaßen nützlich erwiesen. Ganz ähnlich verhält es sich scheinbar mit dem Moloch Sao Paulo. Denn wer einmal dorthin kommt, wird möglicherweise überrascht sein, dass diese Stadt durchaus ihre Qualitäten hat, Qualitäten, die weit über das hinausgehen, was so manche europäische Möchtegernmetropole bietet. Fernando, der Maler, weiß daher auch, warum er bisher noch geblieben ist:
Sao Paulo ist ein riesiger Schmelztiegel. Ständig lernt man neue und andere Leute kennen. Das hier ist nicht nur eine Metropole der Kapitalisten. Wir haben auch die zweite, die dritte, die vierte Welt in der Stadt. Es gibt Vororte, in denen noch Indianer leben. Sao Paulo besteht aus völlig verschiedenen Gesellschaften gleichzeitig. Und man geht miteinander um, es gibt keine Rassenunruhen. Mein Freundeskreis setzt sich aus allen möglichen Hautfarben und Religionen zusammen. Und es ist kein Problem.
"Anthropofagia" nennt man in Brasilien diese erstaunliche Fähigkeit, miteinander auszukommen, alles Fremde und andere mit einer uns Europäern so unheimlichen Selbstverständlichkeit aufzunehmen. Überall wird man angesprochen, ob in der Metro oder beim Essen im Restaurant. Es gibt eine grundsätzliche Neugier an Deiner Geschichte. Und vielleicht ist es ja gerade das Fehlen großer öffentlicher Plätze, einer vorgegebenen Struktur, die die Menschen hier dazu anhält, sich ihre eigene, private Öffentlichkeit zu suchen. Die Stimmung ist so warm wie das Klima. Und manche, die länger in der Stadt zugebracht haben, berichten, das Leben dort kann süchtig machen, süchtig nach den Kontakten, nach de Freunden, nach der Gemeinschaft. Welch ein Kontrast zu Europa, und welch ein Effekt für eine Stadt, der man in Europa üblicherweise jede soziale Komponente abspricht. Und wohl auch dies hatte ein Vilém Flusser im Sinn, als auch er Sao Paulo zur Stadt der Zukunft erkor. - Allmählich scheinen sich auch die Heerscharen wohlmeinender Stadtverbesserer überzeugen zu lassen, die seit Jahrzehnten Masterpläne und Lösungen diskutieren: Dass man eine Stadt nicht einfach mit einigen Patentrezepten "humanisieren", sprich: europäisieren kann, und schon gar nicht Sao Paulo. Viele Paulistanos verbindet eine Hassliebe mit ihrer Stadt. Sie sehen und erleben täglich die Probleme, auch die Armut neben den grotesken Dollarburgen der Reichen. Niemand kann und wird das schön reden. Doch es bringt wenig, verrottete Industriebrachen zu Kulturzentren zu machen, denn so viel Kultur kann es in einer Stadt gar nicht geben, wie hier Platz dafür zur Verfügung stünde. Es macht keinen Sinn, alte Arbeiterviertel mit Vergnügungsparks aufzupeppen, wenn die sich ohnehin nur die Wohlhabenden leisten können. Wer ehrlich ist, sieht, dass die wahren Herausforderungen der Stadt, die Armut und die Verkehrsprobleme im Grunde unbezahlbar sind. Sie zu lösen: das hieße tatsächlich eine neue Weltordnung schaffen.
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