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Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein"
Wenn das bessere Leben ein Traum bleibt

Zwei Mütter, zwei Töchter, zersplitterte, miteinander verhakte Biografien. Vier Frauen ringen mit ihrer Geschichte auf der Suche nach Gemeinsamkeit, Liebe und Identität. "Im Menschen muss alles herrlich sein" ist ein poetischer und brutaler Roman.

Von Carsten Hueck | 13.09.2021
Sasha Marianna Salzmann und der Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein"
Sasha Marianna Salzmann ist einer der Shootingstars der jungen deutschen Literatur (Foto: picture alliance/dpa | Annette Riedl, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Eigentlich hätte es schön werden sollen, etwas Besonderes, vielleicht die Beglaubigung eines gelungenen Lebens: der fünfzigste Geburtstag von Lena - geboren vor einem halben Jahrhundert in einer ukrainischen Industriestadt, die heute von russischen Separatisten besetzt ist. Aufgewachsen ist Lena in der Sowjetunion, dann: mit einem jüdischen Ehemann nach Deutschland ausgewandert, nach Jena gezogen, wo keine Heimat ist. Hier soll aber die große Fete stattfinden, die Feier mit Freunden und alten Bekannten. Lena hat einen Saal im Gemeindezentrum gemietet, Teller und Gläser für vier, fünf, sechs Gänge stehen auf den Tischen.
"Lena strahlte im smaragdgrünen Hosenanzug, lächelte in alle Richtungen, nickte und nickte und umarmte, küsste, 'Was, das ist für mich? Du bist verrückt!', 'Wow, nein, das wäre doch nicht' – , 'Genau das, was ich wollte!'. Bald würden Leute aufstehen und nette Dinge sagen und dann ihr Glas heben. Leute würden singen und etwas auf dem Klavier klimpern. 'Ich will tanzen mit euch. Nur Musik!', hatte Edi sie rufen gehört. 'Keine Mätzchen, keine Anekdoten, keine Politik!'"

Vereinzelt zusammen

Edi ist Lenas Tochter. Angereist aus Berlin, das ihr gefühlt Lichtjahre entfernt scheint vom Wohnort ihrer Mutter. Gleich zu Beginn des Romans von Sasha Marianna Salzmann liegt Edi in Jena auf einer Wiese. Zusammengeschlagen, verbeult und mit gebleichten Haaren. Die Party ihrer Mutter ist vorbei, bevor sie richtig begonnen hat. Die Gäste starren aus den Fenstern auf Edi und Lena. Was ein ausgelassener Abend hätte werden sollen, endet schnell in einer kleinen, dunklen Wohnung, in der Edi mit einem nassen Lappen und heißem Tee notversorgt wird.
Mit diesem harten Aufschlag beginnt die Autor*in ihren Roman. Weder kennt man in dem gut fünfseitigen Prolog die handelnden Figuren, noch die Ich-Erzählerin, noch Zeit oder genauen Ort des Geschehens. Doch Plattenbau-Tristesse, Verletzungen, Fremdheit und ein belastetes Mutter-Tochterverhältnis sind ein paar erkennbare Koordinaten. Zwischen ihnen wird sich die Geschichte im Folgenden entwickeln.
Salzmann erzählt retrospektiv und fast die Hälfte des Romans chronologisch. Dann springt sie in die Gegenwart, zwei neue Erzählstimmen kommen hinzu, und es entfalten sich in atmosphärisch dichten Szenen weitere Biografien. Die von Lena und ihrer Freundin Tatjana sind eng verbunden mit der Sowjetunion und deren Zusammenbuch, die ihrer Töchter Edi und Nina mit bundesdeutscher Realität nach der Wiedervereinigung. Die beiden Mädchen erzählen in der Ich-Form, ihren Müttern entfremdet. Zwischen den Generationen herrscht Sprachlosigkeit.
"Eine Frau steht hinter der anderen, und die Mutter der einen ist die Tochter der nächsten. Mal taucht dasselbe Gesicht als Großmutter auf, mal als Kind. Dass es Mütter und Töchter sind, verstehe ich an der Art, wie sie aneinander vorbeischauen. Aber sie suchen sich. Sie suchen sich mit ihren Blicken. Mit weichgeklopften Rücken und wundgekratzter Haut stehen die Mütter vor ihren Töchtern und diese Töchter vor ihren Töchtern und können sich nicht rühren."
Im Vordergrund das Buchcover von Sasha Marianna Salzmanns "Außer sich", im Hintergrund eine Stadtansicht von Istanbul bei Nacht
Eine wilde, intensive Stimme - Salzmanns Debütroman
Sasha Marianna Salzmann mischt in "Außer sich" die Sprachen und wechselt die Geschlechter von einer Zeile zur nächsten. Ein atemberaubender Erzählfluss entsteht und eine Familienerkundung, die die Dramen des 20. Jahrhunderts behandelt.

Das Auseinanderklaffen innerer und äußerer Welten

Sasha Marianna Salzmann führt in "Im Menschen muss alles herrlich sein" zuerst durch die Breschnew-Jahre, die in der Sowjetunion später das "Goldene Zeitalter der Stagnation" genannt wurden. Erfahrungen von Korruption, Drill, Enge und Mangel verstehen sich dort von selbst. Dann verändert Gorbatschows Politik das Land, die 1990er Jahre brechen an. Lena wird eine erfolgreiche Ärztin, die sich ihre Arbeit lukrativ honorieren lässt.
"Der Staat bröckelt, und die Leute müssen sehen wo sie bleiben. Das ist verständlich. Unser Land liegt vom Bauchnabel bis zur Gurgel aufgeschnitten auf dem Operationstisch. Diese Umwälzungen werden immer mehr Menschen produzieren, die zu allem bereit sind. Sie glauben nur an sich, denn woran sonst sollen sie glauben? Man nimmt, was man kriegen kann, alles andere wäre dumm, nicht?"
"Fleischwolf" – so nennt Lena, was um sie herum vorgeht. Von einem Tschetschenen wird sie schwanger, mit einem Juden wandert sie schließlich als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus.
An dieser Stelle bricht das lineare Erzählen der Autor*in ab – der Zeitbruch wird erfahrbar, die Implosion einer Biografie. Im nächsten Kapitel setzt die Stimme der jungen Nina ein, die aus ihrer Sicht als Ich-Erzählerin Lenas Geschichte weitererzählt.
"Wahrscheinlich erkannte Tante Lena meine Mutter am Gesichtsausdruck, als sie damals aus dem Bus Berlin-Jena stieg. Die haben nämlich einen ähnlichen, vom Leben erschrockenen Blick."

Spuren der Vergangenheit im neuen Leben

Tatjana und Lena, die Mütter, Edi und Nina die Töchter, zwei Generationen - Sasha Marianna Salzmann verwebt die Biografien dieser vier Frauen. Den jungen, in Deutschland aufgewachsenen, steckt die sowjetische Herkunft der Mütter in den Knochen. Jede der Frauen versucht einen Weg zu sich und durchs Leben zu finden. Jede ist auf ihre Art "zerbröckelt", Erschütterungen und Schmerzen ausgesetzt, kann nicht vor, noch zurück, lebt in einer Art Zwischenzeit. Die Autor*in beschreibt mit erbarmungsloser Schärfe und doch voller Mitgefühl starke, verzweifelte, leidenschaftliche und wütende Frauen. Die Männer dieses Romans erscheinen, wenn auch durchaus liebenswürdig, im Vergleich dazu blass und leichtgewichtig und eindimensional.
Sasha Marianna Salzmanns Stärke ist die Szene, der Dialog, das erzählende Detail, die zeithistorische Genauigkeit, die sinnliche Dichte, das überraschende, treffende Sprachbild. Und das lässt vergessen, dass auch der Roman ein wenig auseinanderbröselt und die Balance zwischen seinen einzelnen Teilen nicht gegeben ist.
Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein"
Suhrkamp Verlag, Berlin.
380 Seiten, 24 Euro.