Auffallend ist zunächst ein extensiver Hang zum "tempo rubato". Häufig macht sich Zacharias dabei den Zugriff eines Gitarristen zu eigen, was einen wichtigen Aspekt der Scarlattischen Sonaten verdeutlicht und auch ein Moment von Freiheit bedeutet. Es ist in der Tat der ebenso freie wie souveräne Umgang mit dieser Musik, der hier zu allererst überzeugt. Entscheidend aber scheint, daß Zacharias diese "Essercizi", Etüden also, als Ausdrucksmusik spielt. Da setzt er sich von seinen früheren Aufnahmen ab, bei denen die mélange aus ésprit und Virtuosität sehr wohl begeisterte; aber mit diesen neuen Einspielungen dringt Zacharias eben doch in eine zusätzliche Dimension vor und positioniert die Scarlatti-Sonaten in einer Ebene mit - sagen wir - den Aufnahmen der Debussy-Préludes durch Krystian Zimerman. In der Darstellung der harten Kontraste geht Zacharias beispielsweise weit über Benedetti-Michelangelis Scarlatti-Interpretationen hinaus. Das reicht von gelegentlichen ansatzlos geschlagenen stahlharten Akkorden bis hin zu jenen lyrischen Fragmenten, in denen die kurzen Melodien wie gerade ersonnen aufklingen, Ton für Ton modelliert und selbst in den extrem zurückhaltenden Augenblicken mit Bedeutung erfüllt. Besonderes Gewicht gewinnen die Verzierungen, die bei Zacharias keineswegs Zierrat sind, sondern zugleich verdichtete Melodie, harmonische Farbe und stilisierte Erregung, wobei gerade hier die nuancierte Behandlung des Dämpfungspedals sozusagen für ständig wechselnde Beleuchtung sorgt. Das alles ereignet sich auf kleinstem Raum, und die Sonaten gewinnen darüber jene Modernität, die, salopp gesprochen, von äußerster Datenkompression ohne Informationsverlust gekennzeichnet ist. Will sagen: Beim konzentrierten Zuhören entfalten diese Sonaten einen überwältigenden Reichtum an Gedanken wie an Emotionen; da zählt jede Minute doppelt. Das setzt natürlich auch eine extrem reaktionsschnelle Spieltechnik voraus. In diesem Fall kommt noch hinzu, daß der Steinway in der Reithalle von Arolsen, der inzwischen fast einhundert Jahre alt ist und damit schon fast zu den historischen Instrumenten gezählt werden darf, einen Klang entfaltet, der sehr viel reicher an Obertönen ist als man dies bei den heutigen Konzertflügeln gleicher Herkunft vorfindet. So kann man diese Aufnahmen wirklich als einen Markstein in der Geschichte der Scarlatti-Rezeption ansehen. Die Dramaturgie der Zusammenstellung mag durch das nun folgende Beispiel belegt werden. Sie hören die Sonaten g-moll K 108, C-Dur K 384 und C-Dur K 406, die zusammengenommen fast schon ein dreisätziges Werk von knapp elf Minuten abgeben. * Musikbeispiel: Domenico Scarlatti - Sonate g-moll K 108 / Sonate C-dur K 384 / Sonate C-dur K 406
Archiv
"Scarlatti: Sonatas"
In ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist die neuerliche Auseinandersetzung des Pianisten Christian Zacharias mit Sonaten von Domenico Scarlatti, erschienen bei Dabringhaus und Grimm. Für Zacharias waren die Sonaten von Scarlatti immer wichtig. Sie haben ihn über die Jahrzehnte hinweg begleitet. Dabei hat er auch immer wieder Experimente riskiert. Und doch ist man nun von dieser Produktion einigermaßen überrascht.