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Schattenseiten der Glücksspielmetropole

Am 15. Mai feiert die Spielerstadt Las Vegas ihren 100. Geburtstag und die eigene Erfolgsgeschichte. Das Zockerparadies ist heute die am schnellsten wachsende US-Metropole. Das Erfolgsgeheimnis: Anfang der Sechziger verweigerte Generalstaatsanwalt Bobby Kennedy Akteuren mit Mafia-Kontakten die Casino-Lizenz und ebnete damit den Aufstieg für Großkonzerne, die jetzt das Zepter schwingen. Nicht alle freuen sich darüber: Beatrice Uerlings berichtet aus der Stadt des Glücksspiels.

    Bis zum Zwerchfell geöffnetes Hemd, eine Zigarre im Mundwinkel: Freddie Glusman sieht aus wie ein Mafioso aus einem Hollywood-Film. Das hat der 72-Jährige sich von den Gästen abgeschaut, die dereinst bei ihm ein und aus gingen. Sein Lokal "Piero’s" war ein beliebter Treff für die Mobster, die Mafiabanden von Las Vegas. Und auch für die großen Stars: Ein Photo im Speisesaal zeigt den Gangsterboss Tony Spilotro, Arm in Arm mit Frank Sinatra.

    Freddie Glusman: "Las Vegas gehörte der Mafia, aber keiner störte sich dran, denn ihr Geld hat die Stadt groß gemacht. Ich war dabei, wie Elvis’ Manager einen Vertrag über 150 000 Dollar auf einem Tischtuch unterzeichnet hat! Es gab es keinerlei Einschränkungen. Heute ist alles seelenlos und antiseptisch. Die Stadtverwaltung will jetzt sogar schlüpfrige Werbeplakate verbieten lassen! "

    Die Touristen verirren sich nur selten in Glusmans Lokal. Es liegt zu weit ab vom "Strip", dem Herzen der modernen Zockermetropole. Über fünf Kilometer hinweg säumen sich hier die Mega-Resorts. Von weitem schon sieht man den grün leuchtenden Turm des MGM-Grand. Das mit 5000 Betten weltgrößte Hotel ist zugleich ein Aushängeschild für die neuen Machthaber. Die MGM-Mirage Gruppe kontrolliert die Hälfte der Tourismusindustrie in Vegas. Die Erfolgsformel, laut Vice President Alan Feldman:

    "Wir haben letztes Jahr 4,5 Milliarden Dollar eingenommen – 750 Millionen sind zurück in die Verbesserung unserer Hotelanlagen geflossen. Wir bauen immer wieder an und immer wieder neu!"

    All die alten Hotels sind abgerissen, auf ihren Ruinen ist eine Mischung aus Casino- und Vergnügungspark entstanden. Die Manhattan-Attrappe New York New York hat eine Achterbahn auf dem Dach; für das Paris stellten sie einen Mini-Eiffelturm in die Oper.

    Hinter den Phantasiekulissen dominieren die stets die gleichen Casinohallen: keine Fenster, keine Uhren, die Luft ist mit Sauerstoff angereichert, damit die Kundschaft nicht müde wird. Archie Karras hat in dieser künstlichen Amüsierwelt den größten Teil seines Lebens verbracht. Am Würfeltisch hat der 54-Jährige in seiner besten Zeit einmal 17 Millionen Dollar gewonnen. Das Geld ist längst weg, die Chancen auf ein Comeback sind gering: Profizocker wie Karras sind heute nur noch bei offiziellen Tournieren erwünscht:

    "Die Casinos sind jetzt in der Hand von Konzernen, was zählt, ist allein der Profit. Gern gesehen sind ältere Damen, denen das Geld locker sitzt. Uns Profis haben sie alle im Computer: Wenn du öfter als 5 Mal gewinnst, schmeißen sie dich raus. Dazu haben sie das Recht in Nevada, denn die Casinos gelten hier als Privatgrundstück. "

    8,5 Milliarden Dollar haben die Casinos im letzten Jahr eingenommen, 9 Prozent mehr als im Jahr davor. Fernab der Spielhöllen sorgen aufwendige Shows, luxuriöse Einkaufszentren und erstklassige Restaurants dafür, dass die Besucher ja nicht zu viel Geld wieder mit nach Hause nehmen. Selbst Kunst und Kultur müssen massenwirksam vermarktbar sein.

    Das Guggenheim-Hermitage befindet sich gleich neben dem Canale Grande im Venitian Hotel. Elizabeth Herridge schaut zufrieden auf die Warteschlange an der Kasse. Ihre Ausstellung "Schätze des alten Ägypten" kommt gut an. Das war auch nötig, denn noch einen Patzer hätte die Museumsdirektorin sich nicht erlauben dürfen.

    Elizabeth Herridge: "Die Casinos legen großen Wert darauf, dass wir unsere Ausstellungen dem Geschmack der Gäste anpassen. Ich habe es mit Pop Art versucht, das war ein Flop. Wenn es um Kunst geht, ist das Publikum hier sehr konservativ. Vielleicht liegt es daran, dass 30 Prozent unserer Besucher vorher noch nie in einem Museum gewesen sind."

    2004 hat Las Vegas zum ersten Mal die Marke von 37 Millionen Besuchern überschritten. Der Erfolg macht die Stadt zu einem Magneten für Jobsuchende aus dem ganzen Land: Die Einwohnerzahl hat sich innerhalb der letzten 12 Jahre auf 1.6 Millionen verdoppelt. Hal Rothman, Professor an der Nevada State University, spricht vom "American Dream":

    "Es gibt hier auch so viele Gewerkschaften wie in keiner anderen amerikanischen Stadt. Die sind entstanden, weil Arbeitskräfte immer schon Mangelware waren. Eine Cocktail-Kellnerin in den Casinos verdient ohne jegliche Ausbildung 50 bis 60 000 Dollar im Jahr."

    Nicht alles glitzert in Vegas. Hinter den tollen Fassaden verbirgt sich eine triste Schattenwelt. Sex ist ein Milliardengeschäft, ausgebreitet auf mehr als 100 Seiten im Telefonbuch. Die Wüstenmetropole hat auch eine der höchsten Kriminalitätsraten in ganz USA; fast jeder zehnte Einwohner ist drogen- oder alkoholabhängig. Auch Unternehmer, die gegen den Strom der Großkonzerne schwimmen, haben es schwer.

    Das winzige Golden Gate Hotel ist fast so alt wie die Stadt selber: Am 15. Mai 1905, dem Tag der Gründung, kaufte John Miller die Parzelle von der Bahngesellschaft. Viel hat sich seither nicht verändert: Das Hotel hat immer noch die Aura eines Wildwest-Saloons und vor allem: legendäre Shrimp-Cocktails, wie Millers Erbe Mark Brandenburg stolz verrät:

    "Die ersten Besitzer kamen aus San Francisco und haben sich gedacht, es sei eine gute Idee, Shrimps in die Wüste zu bringen. Sie haben das ganze für 55 Cents pro Becher verkauft. Es ist mir schwer gefallen, dass ausgerechnet ich ihn auf 99 Cents anheben musste."

    Brandenburg hofft, dass seine Stadt sich irgendwann wieder an ihre Ursprünge erinnert. Einstweilen muss er sich sorgen, wie er die Lohnnebenkosten seiner Angestellten decken soll. Es haben sich nur wenige Gäste eingefunden an diesem Abend. Sie hängen vor den Spielautomaten und schlürfen an ihren Margaritas. Egal, wie sehr der Pianist sich ins Zeug legt – keiner hört hin.

    "Schauen Sie, ich könnte so spielen," sagt der Pianist und klimpert dann wie besessen.
    "Wenn die Leute sich eine Show anschauen wollen, dann gehen sie in die neuen Mega-Resorts mit ihren Großproduktionen. In meiner Zeit war das anders. Wir waren ganz verrückt nach dem Blues von Huddie Ledbetter. Es war cool, gegen den Mainstream zu sein. Heute ist es genau umgekehrt. "

    Seinen Namen will der Pianist nicht nennen. Er hat Angst, dass sie in Deutschland hören, dass er jetzt für ein paar Dollar Trinkgeld spielen muss. Der Pianist war in den Achtzigern bei einem deutschen Rundfunkorchester beschäftigt. Das war meine größte Zeit, schwärmt er, und schmiert sich einen Strich Make-up auf die sonnenverbrannte Nase. The Show must go on.