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Schein-Demokratien in Afrika

Hungersnöte und Seuchen, politische Unterdrückung bis zum Genozid – Schwarzafrika, entfernt sich immer weiter von den Idealen westlicher Demokratien. Auch Paul Collier, Professor für Ökonomie und Direktor des "Centre for the Study of African Economies” an der Universität Oxford, sieht kein Ende dieser Entwicklung. Es sei denn, der Westen geht radikal neue Wege.

Von Mirko Smiljanic |
    Am 10. Juli 2006 starteten 60 Bundeswehrsoldaten vom militärischen Teil des Flughafens Köln/Wahn nach Kinshasa, alle zwei Tage wurden weitere Einsatzkräfte in die kongolesische Hauptstadt und ins benachbarte Gabun gebracht. Die deutschen Soldaten sollten auf Bitte der UN die seit Jahrzehnten ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Kongo militärisch absichern. War das eine gute Idee? Auf den ersten Blick ja, denn die Wahl verlief ohne größere sichtbare Zwischenfälle. Zweifel an der ebenso aufwendigen wie teuren Aktion werden allerdings bei dem wach, der sich die aktuelle Situation im Kongo anschaut: Verfolgung und Unterdrückung, Korruption und Armut sind immer noch an der Tagesordnung: Die dritte kongolesische Republik hat trotz einer demokratisch legitimierten Wahl kaum Gemeinsamkeiten mit Demokratien nach westlichem Muster. Paul Collier, Direktor des "Centre for the Study of African Economies" an der Universität Oxford, geht sogar noch einen Schritt weiter: Demokratische Wahlen fördern seiner Meinung nach bei den einkommensschwächsten Ländern, in denen die sogenannte "untersten Milliarde", der Weltbevölkerung lebt, undemokratische Strukturen.

    In unserer Zeit hat eine große politische Veränderung stattgefunden: die Verbreitung der Demokratie in den Ländern der untersten Milliarde. Aber handelt es sich wirklich um Demokratie? Sicherlich werden in diesen Ländern, nicht zuletzt auf amerikanischen und europäischen Druck, Wahlen abgehalten. Doch eine wirkliche Demokratie besteht nicht nur aus Wahlen mit mehreren Kandidaten; sie setzt auch Regeln für das Verhalten der Gewählten: Betrug wird bestraft.

    Collier hat recht. Wer sich die Entwicklung von Ländern wie Burkina Faso, Kenia und Ruanda aber auch Burma, Turkmenistan oder Mauretanien anschaut, der muss zugeben: Wahlen haben bisher keineswegs zu mehr Demokratie geführt. Die ärmsten der armen Nationen befänden sich – so Collier – allenfalls in einem Zwischenreich. Sie besäßen weder die Fähigkeit von Autokratien entschlossen zu handeln, noch das verantwortungsvolle Regierungshandeln einer Demokratie. Einer der wichtigsten Gründe für diese Entwicklung ist für Collier die Ethnisierung der Politik. Alle Kandidaten treten mit dem Versprechen an, ihre ethnische Gruppe nach einem Sieg mit besonderen Privilegien zu versehen. In Afrika sei das eine gängige Politik, die das nigerianische Sprichwort "I chop, you chop!" treffend umschreibt: Wenn ich esse, hast du auch zu essen! Dieses Prinzip sei schon wegen der hohen Zahl ethischer Gruppen ausgesprochen problematisch.

    Die meisten Gesellschaften der untersten Milliarde sind ethnisch weit vielfältiger als diejenigen der einkommensstarken Länder. Häufig ist diese Vielfalt fast ein Tabuthema: Es anzusprechen, würde zu große Aufregung hervorrufen. Nach meiner Ansicht verursacht die ethnische Vielfalt schwierige, aber nicht unüberwindbare Probleme, die allerdings nicht gelöst werden, wenn man sich ihnen nicht stellt.

    Collier glaubt an die Lernfähigkeit des Menschen. Rationales Denken und daraus abgeleitetes Handeln lösen die politischen und ökonomischen Probleme der ärmsten Länder – so sein Credo. In gewisser Weise spiegeln die drei Teile seines Buches diese Annahme: "Die Realität verleugnen", "Die Realität akzeptieren", "Die Realität verändern": Ein fortschreitender Erkenntnisprozess durchbreche den Kreislauf von Armut und Unterdrückung. Was schlägt der britische Ökonom aber nun konkret vor? Was soll, wenn nicht demokratische Wahlen, die ärmsten Länder demokratisieren? Seine Vorschläge sind ebenso radikal wie provozierend.

    Vorschlag 1: Die Gewalt in den Dienst der Demokratie stellen, was nichts weniger bedeutet, als dass westliche Demokratien Militäraktionen akzeptieren, die sich gegen unfaire und diktatorische Herrscher richten. Auf der anderen Seite heißt das aber auch: Politiker, die legitim an die Macht gekommen sind, werden vom Westen – notfalls mit Waffengewalt – vor einem Putsch geschützt.

    Vorschlag 2: Einen redlichen Umgang mit dem Staatshaushalt durchsetzen. Ein Punkt, bei dem ebenfalls die westlichen "Geberländer" gefordert sind. Im Mittelpunkt des Machtmissbrauchs steht für Collier Geld. Und weil ein großer Teil des Geldes aus der Entwicklungshilfe stamme, müsse zukünftig sehr genau geschaut werden, was mit dem Geld geschieht. Dafür müssen die entwickelten Länder ein System der Finanzkontrolle installieren, das – so Collier – mindestens ebenso paranoid sein müsse wie das Sicherheitssystem der Diktatoren. Das Konzept des Good Governance, der Guten Regierungsführung, reiche als Kriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfe nicht.

    Vorschlag 3: Die Sicherheit international gewährleisten, was die Vereinten Nationen und die NATO weit stärker in die Pflicht nehmen würde als bisher; was aber auch ein stärkeres Interesse der entwickelten Nationen für die Länder der untersten Milliarde erfordere. Zurzeit seien sie allenfalls günstige Märkte und Rohstofflieferanten für die westliche Welt, zukünftig sollten sie akzeptierter Teil der Weltwirtschaft sein, ausgestattet mit gleichen Rechten und Pflichten. Dafür – so Collier – müsse vor allem der nationale Aufbau gefördert werden. Wie das gelingen kann, zeigt er am Beispiel von Tansanias Staatsgründer Julius Nyrere. Er habe es geschafft, die Bevölkerung zu einer Nation zusammenzuschweißen. Weitere positive Beispiele seien Sukarno in Indonesien und Mandela in Südafrika.

    Paul Collier schlägt einen radikalen Wandel im Umgang mit den ärmsten Nationen vor: Weg vom Aufbau pseudodemokratischer Fassaden, hin zu einer effektiven finanziellen und – falls nötig – militärischen Absicherung. Freie und demokratische Wahlen seien dafür zunächst nicht erforderlich, die Demokratisierung der ärmsten Länder beginne nicht an der Wahlurne. Wie man afrikanische oder asiatische Potentaten dazu bringen könne, sich diesen Vorstellungen anzuschließen, weiß allerdings auch der Autor nicht so genau. Trotzdem ist das Buch ein erfrischender Beitrag zur Diskussion um die Zukunft der ärmsten Nationen.

    Paul Collier: "Gefährliche Wahl. Wie Demokratisierung in den ärmsten Ländern der Erde gelingen kann." 2009 Siedler Verlag, München, 272 Seiten, Preis: 19,95 Euro (ISBN: 3886809366).