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Schein und Sein der KJS

Bis heute erscheinen die Kinder- und Jugendsportschulen der DDR als leuchtendes Vorbild für die frühkindliche Sportförderung. Der Sporthistoriker René Wiese leuchtet mit seiner verdienstvollen Studie die KJS-Geschichte aus und weist dabei auf die vielen historischen Brüche und Probleme dieser Einrichtung hin.

Von Erik Eggers | 01.09.2012
    Der Mythos der Kinder- und Jugendsportschulen, kurz KJS, strahlt immer noch hell. Und das nicht allein bei Athleten, die noch in der DDR sozialisiert wurden. Ex-Handballstar Stefan Kretzschmar etwa lobte noch lange nach der Wende die "hervorragende Ausbildung" an den KJS. Und westdeutsche Sportmediziner wie Wilfried Kindermann kritisierten es als Fehler, "diese Förderungsform als ideologischen Ballast abzulehnen und zu verkennen, was dort an Arbeit geleistet wurde".

    In der Sportgeschichte waren die KJS bisher ein weißer Fleck. Nun endlich hat der Sporthistoriker René Wiese mit seiner Dissertation "Kaderschmieden des Sportwunderlandes" diese Leerstelle gefüllt. Er wolle damit die sportwissenschaftlichen und historischen Dimensionen des Themas eröffnen, hat Wiese als Ziel seiner Arbeit formuliert. "Die Rolle und Bedeutung der Kinder- und Jugendsportschulen als ‚Nukleus‘ des DDR-Leistungssportsystems", schreibt er, "bedarf einer aufklärenden und entmythologisierenden Aufarbeitung". Diese Aufarbeitung ist ihm grandios gelungen.

    Mit dem kühlen Blick des Historikers seziert er auf 629 Seiten mit großer Akribie das Modell der KJS. Sein nüchternes Fazit lautet, dass ein solches Modell in einem demokratischen Staatswesen unmöglich durchzusetzen wäre. Der überragende Erfolg der KJS sei "nur unter den sowohl dirigistischen wie auch repressiven Bedingungen des DDR-Sportsystems möglich" gewesen. "Erst die SED-Diktatur ermöglichte einen derart umfassenden Zugriff auf die sportlichen Talente, um dem Medaillenstreben des Staates die höchste Priorität einräumen zu können."

    Wiese schneidet die KJS-Geschichte in vier Epochen. Der Genese dieser Schulform in den Jahren 1950-1957 folgte ihm zufolge die Phase einer leistungssportlichen Ausrichtung bis 1968. In der dritten Ära zwischen 1969 und 1980 habe das System organisatorisch-strukturell seine volle Blüte erreicht. In den 1980er Jahre schließlich seien lediglich Feinjustierungen vorgenommen worden.

    Die Anfangsphase verlief teils chaotisch. Symptomatisch dafür war, dass die erste Schule am 1. September 1952 in Halberstadt den Betrieb aufnahm, obwohl sie eigentlich als Kindersportschule abgelehnt worden war; das entsprechende Schreiben hatte nicht rechtzeitig den Weg an die Schule gefunden. Grundlage für die KJS war ein Beschluss des ZK der SED vom 16. März 1951, wonach für sportbegabte Kinder ab 14 Jahre Jugendsportschulen zu errichten seien. "An diesen wird der allgemeine Schulunterricht durchgeführt, jedoch wird der körperlichen Erziehung ein weitaus breiterer Rahmen eingeräumt", hieß damals der konkrete Auftrag. Dahinter stand die Idee des SED-Chefs Walter Ulbricht, über den Weg des Leistungssports die Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftsmodells zu dokumentieren.

    Die Innovation der DDR-Planer lag darin, Sport und Schule miteinander zu verknüpfen. Das führte, wie Wiese erläutert, "damit über das Modell der sowjetischen Nachmittags-Kinder- und Jugendsportschulen hinaus." Doch die Durchsetzung dieses Entwurfes provozierte viele Widerstände durch Eltern und auch durch Pädagogen. Zugleich stellte sich aber der sportliche Erfolg ein. 1958 gelang der Brustschwimmerin Karin Beyer als erstem KJS-Sprössling ein Weltrekord.

    Dynamisiert wurde die Entwicklung, als der Deutsche Turn- und Sportbund (DSTB) als "Motor der Leistungssportentwicklung" gegründet wurde. In diesem Prozess der leistungssportlichen Ausrichtung kam es zu vielen Machtkämpfen zwischen dem Ministerium für Volksbildung unter Margot Honecker, das für die KJS zuständig war, und Manfred Ewald, Chef des DTSB – und zu entscheidenden Neuerungen: So wurde der Einzel- und Kleingruppenunterricht für die zeitlich hoch beanspruchten Kader eingeführt.

    Die höchst differenzierte Ausgestaltung der KJS-Schulen nach olympischen Sportarten nach 1968 war erst nach der Synchronisierung der verschiedenen Institutionen möglich, und durch enorme finanzielle Anstrengungen. Allein das Ministerium für Volksbildung investierte zwischen 1971 und 1987 rund 200 Millionen DDR-Mark in die KJS.

    In die gleiche Zeit fielen auch die Versuche der Staatsicherheit, die KJS nahezu lückenlos zu überwachen; ein Drittel aller KJS-Führungskräfte zwischen 1962 und 1989 waren MfS-Mitarbeiter, hat Wiese ermittelt. Auch dem Thema des Minderjährigendopings, das in dieser Zeit ausgeformt wurde, widmet sich der Historiker ausführlich. Man müsse konstatieren, dass "im Anschlusskaderbereich wohl jeder KJS-Athlet in den 1980er Jahren mit Doping in Berührung kam", dabei seien Mädchen wesentlich früher und damit länger gedopt worden als die Jungen. Die Bilanz des Minderjährigendopings an den KJS sei "erschreckend". Umso wichtiger ist dieses Werk, das dem Mythos trotzt und historische Aufklärung im besten Sinne leistet.




    Rezensiertes Buch:
    René Wiese, Kaderschmiede des "Sportwunderlandes". Die Kinder- und Jugendsportschulen der DDR, Arete Verlag, Hildesheim 2012, 629 Seiten, 49,95 Euro.