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Schicksalsmomente einer Familie

Obdachlose, Drogenabhängige, Geisteskranke – die Stücke von Lars Norén spielen an den Rändern der Gesellschaft. Der 61-jährige Schwede spart kein Tabuthema aus: Sein Spektrum reicht vom Zusammenbruch der Familie bis zum Niedergang des Wohlfartsstaates. Nun brachte Norén seine beiden neuesten Einakter unter dem Titel "Terminal" auf die Bühne.

Von Daphne Springhorn |
    Hallunda liegt etwa 20 Kilometer südwestlich von Stockholm. Ein trister siebziger Jahre Vorort, mittendrin der Hauptsitz des Reichstheaters, so schmucklos wie eine Maschinenhalle. Hierhin zog der als Familienzertrümmerer bekannt gewordene Norén, als er 1996 das "Dramaten", das weltberühmte Theater im Herzen Stockholms, verließ, um als Intendant des "Reichstheaters", mit sozial brisanten Themen ein jüngeres Publikum überall in Schweden zu erreichen. ( Das Reichstheater ist ein Tournéetheater, das überall in Schweden gastiert). Zehn Jahre später scheint Norén thematisch wieder in den "Schoß der Familie" zurückzukehren. Die beiden Einakter, die Norén unter dem Titel "Terminal" gestern Abend vorgestellt hat, - sie stammen aus einer Serie von insgesamt neun Einaktern - handeln nämlich von Schicksalsmomenten, wie sie sich eben nur in einer Familie abspielen können:

    Ein junges Paar, die Frau ist hochschwanger und will entbinden, hat sich im Krankenhaus verlaufen. Es sitzt im selben Wartezimmer wie ein älteres Paar, das gleich den gemeinsamen nun toten Sohn identifizieren soll. Nach einigen Diskussionen mit dem Arzt stellt sich heraus, dass das junge Paar versehentlich auf der Pathologie gelandet ist. Die Geburtsabteilung liegt gleich neben an.
    Durch einen dramaturgischen Kunstgriff rückt Norén Tod und Geburt noch näher zusammen: beide Paare sind eigentlich ein und dasselbe Paar nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Das Kind, das die junge Frau zur Welt bringt, wird zwanzig Jahre später vom selben Paar als Leiche identifiziert.

    Im zweiten Einakter kommt der schon verloren geglaubte Sohn nach Hause, um zusammen mit Vater und Schwester, die krebskranke Mutter in den Tod zu begleiten.

    Dafür braucht es keine große Bühnenausstattung: Fünf weiße Stühle im Hintergrund, zwei Bänke im Vordergrund, hinter einer durchsichtigen Trennwand der aufgebahrte tote Sohn, auf einem Bett das Hochzeitskleid der sterbenden Mutter. Ansonsten ist die Bühne schwarz.

    Das dramatische Beziehungsgerüst entsteht jedoch vor allem durch Sprachspiele und die Momente des Schweigens. Im ersten Einakter unterhalten sich die beiden wartenden Paare erst nur untereinander, dann beginnen sie in die Gesprächspausen des jeweils anderen Paares einzubrechen und deren Dialoge mitzugestalten. So verschränken sich die Zeitebenen sprachlich ineinander, werden immer dichter und dynamischer bis sie schließlich - wie bei einer Fuge - zu einer gemeinsamen Auflösung – wenn auch nicht Erlösung - finden.

    Im zweiten Einakter gelingt die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart jedoch weniger gut. Die Mutter-Sohn-Beziehung bleibt konturlos. Hier sind zu viele Personen auf der Bühne, ein Spannungsbogen baut sich nicht richtig auf und die Videoaufzeichnungen in Schwarz/Weiß, die im Hintergrund gezeigt werden, wirken eher störend - von der eigentlichen Krise, zu der Norén ja hinführen will, ablenkend.

    Obwohl Norén in diesen beiden Einaktern wieder das Innenleben einer Kleinfamilie in den Mittelpunkt rückt, will er von einer Kehrwendung zurück zu seinen früheren Familiendramen jedoch nicht sprechen:

    "Ich gehe ein und aus, pendle zwischen verschiedenen Bereichen. Die Familien in meinen früheren Stücken haben Kinder, die wiederum in meinen später entstandenen gesellschaftspolitischen Stücken auftauchen. Jetzt, während der Proben zu "Terminal", schreibe ich beispielsweise ein Stück über rumänische Straßenkinder. Ich kann nicht nur an einem Ort sein, ich muss auch gleichzeitig woanders sein. "

    Das Neue an den beiden gestern aufgeführten Stücken ist jedoch ihre Kürze. Zur Inszenierung einer Krise braucht der schwedische Dramatiker kein abendfüllendes Programm mehr, fünfundvierzig Minuten reichen ihm aus, um Leben und Tod und alles was dazwischen liegt an Ängsten, Hoffnungen und Missverständnissen kunstvoll miteinander zu verschränken. Auch als Dichter habe er solch einen Prozess durchgemacht: seine anfangs so umfangreichen Gedichtsammlungen wären zum Schluss so kurz wie Streichhölzer gewesen.

    Auch mit Streichhölzern kann man noch Bühnen in Brand setzen, nicht immer, aber doch zumindest bei einem Stück ist es Lars Norén gestern Abend Norén gelungen. Ein weiteres Mal hat er bewiesen, dass er ein würdiger Strindberg-Nachfolger ist.