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Schizophrene Poesie auf Elektrobeats

Mit "The Minutes" kehrt Alison Moyet zur elektronischen Musik zurück. Das Ergebnis sind exzellente und sehr unterschiedliche Songs. Und noch immer passt die Stimme der früheren Yazoo-Sängerin perfekt zu Synthesizern und Maschinenbeats.

Von Bernd Lechler | 27.04.2013
    Also, die Stimme ist schon mal ganz die alte. Oder: die junge. Rund und tief und expressiv; die Stimme eben, die schon 1982 das kühl klickernde Elektroinstrumentarium von Vince Clarke so spektakulär mit Soul versah, dass die New Wave ihre erste richtig gute Schnulze hatte - und eine 21-Jährige vom Punk geprägte angehende Klavierstimmerin plötzlich in den Top Five stand.
    Nach vier Hits in kurzen 18 Monaten trennten sich Yazoo, aber auch dem Chartspop der Solo-Alison gab diese Stimme irgendwie Bedeutung.

    Sie hatte die Hits, den Ruhm und das Geld, doch ein "Popstar" war Alison Moyet nie. Zu scheu. Zu verquer. Als sie in den 90ern auch musikalisch ausscheren wollte, begann ihr anhaltender Ärger mit den Plattenfirmen. Noch 2006 musste sie sich aus ihrem Vertrag mit Sony Music herausklagen, weil das Label ein bereits fertiges Album wegen vorgeblichen Mangels an Hitmaterial nicht veröffentlichte. Vor diesem Hintergrund ist "The Minutes" entstanden, wie Alison Moyet kürzlich im Radio 2 der BBC erklärte:

    "Angebote hatte ich jede Menge, aber alle wollten nur Etta-James-Covers! Ich dachte: Nee, dann hör ich lieber auf. Niemand wollte eigene Songs von mir. Aber Guy glaubte daran, und so gingen wir in seiner freien Zeit ins Studio - ohne jegliche Einmischung. Wenn sich ein Label finden würde, gut, wenn nicht, war’s das."

    Beim renommierten Indie Cooking Vinyl erscheint nun Alison Moyets Rückkehr zur elektronischen Musik. Der erwähnte "Guy" ist Produzent Guy Sigsworth, klassisch gelernter wie abenteuerlustiger Betreuer schon von Björk oder Madonna, und er lässt auch "The Minutes" nicht Comeback-versessen oder radiogerecht klingen, sondern immer wieder recht aggressiv.

    Andererseits liegen Sigsworths berühmteste Arbeiten schon eine Weile zurück, und auch die neue Alison Moyet klingt nicht ganz "heutig": Mit den angesagten Dubstep-Jungs konkurriert sie erst gar nicht. Man denkt eher an die 90er, an die Jahrtausendwende: an die Madonna dieser Jahre, an Goldfrapp oder Massive Attack. In einem Fall auch an ihre Anfänge: "Filigree" ist pastellfarbener Synthiepop wie von 1982. Einer innerer Monolog über Glückssehnsucht und Lebenstiming. Alison Moyets Texte sind verrätselt und poetisch und allemal hinhörenswert.

    "Ich bin jetzt Mitte 50, da denken die Leute doch, man hätte keinen Biss mehr und die Kreativität hinter sich. Dabei hat man in dem Alter viel mehr zu sagen. In diesem Fall übrigens weniger über Beziehungen, es ist eher ein schizophrenes Album, bei dem ich viel mit mir selber ins Gericht gehe."

    Die Songs auf "The Minutes" sind allesamt exzellent - und sehr divers: düster und sonnig, kalt und heiß; Alison Moyets Stimme passt auch immer noch perfekt zu Synthesizern und Maschinenbeats - wenngleich Produzent Sigsworth sie zum Teil mit arg viel knalligem Gedöns zugestellt hat. Und ein Lied, das erst so toll an Alisons Held Elvis Costello gemahnt - muss das zum Refrain in so banales Gerocke kippen?

    Etwas weniger Wucht wär vielleicht mehr gewesen, aber - ist ja Geschmackssache. Vielleicht beim nächsten Mal - fürs Erste ist sie einfach wieder da, und feiert die "Minuten", auf die sich der Albumtitel so lebensweise bezieht.

    "Wir sind doch alle enttäuscht, wenn unser Leben sich nicht als eine einzige Freude entpuppt. Irgendwann begreift man: Darum ging’s nie, es geht um die seltenen Minuten, die Augenblicke. Und darum geht’s mir hier. Es war ein jahrelanger Kampf, wieder ein kreatives Album machen zu können. Dies sind meine Minuten."