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Schlittenfahrt mit "Soldaten"

1957 bestellt, 1958 begonnen und 1960 fertig gestellt war rasch klar, das Werk des modernen Komponisten Bernd Alois Zimmermann galt wegen seiner Monumentalität als unaufführbar. Vorlage für den Komponisten war das Sturm-und-Drang-Drama "Die Soldaten" von Jakob Michael Reinhold Lenz. Das Stück darüber, was Menschen einander antun, wurde nun im Rahmen der Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle Bochum aufgeführt.

Von Holger Noltze |
    Oh, sie weiß, dass das "alles nur Komplimenten seien", was ihr der Herr Baron Offizier Desportes macht, wenn er ihr schlechte Gedichte schreibt. Seine Schwüre sind falsch. Eine Hure bleibt immer eine Hure, heißt es später, als die Soldaten im Dampfbad unter sich sind. Wir aber sehen, wovon was kommt, Gewalt aus Gewalt, wir sehen den Untergang des Bürgermädchens Marie, die ihren Verlobten verrät, weil sie was anderes will und nicht merkt, wie schlecht die Gedichte und Menschen sind.

    An Lenzens "Soldaten" interessierte Zimmermann das soziale Drama weniger als die dramaturgische Struktur: Wie frech das nämlich schon 1776 auf die aristotelischen Einheiten pfeift, ein rasender Szenenwirbel, der alles nach unten zieht. Für den Komponisten war das der ideale Stoff für ein Totaltheater, das jede bekannte Dimension von "Oper" sprengen sollte. So maßlos türmte Zimmermann Aufwand und Anforderungen, dass er sich zuerst das Verdikt der "Unaufführbarkeit" einhandelte.

    Die Maßlosigkeit der Mittel aber galt nicht nur der Verwirklichung einer abstrakten Formidee; Das alles ist so kompliziert und anstrengend, weil es ans Eingemachte will, aufs Existentielle, Allgemeingültige zielt; nicht die Vergewaltigung einer Marie ist sein Thema, sondern aller: Was Menschen einander so antun.

    Auf die Projektion einer Atomwolke als apokalyptischer Chiffre solcher All-Gewalt hat man bei der Uraufführung 1965 verzichtet. David Pountney, in Bochum, verzichtet gleich auf alle filmischen Projektionen, auch auf aktualisierende Bilder. Zur großen Projektion und eigentlich Hauptsache wird hier die Jahrhunderthalle als Ort des simultanen Geschehens. Vielleicht zum ersten Mal scheint der monumental-industrielle Raum ganz genutzt.

    Spielfläche ist ein 120 Meter langer Steg, an dem das Publikum auf einem Riesenschlitten vorbeifährt, ganz nah entlang an den Darstellern und durch die verteilt postierten Bochumer Symphoniker hindurch. Diese trotzen, unter dem tapferen Schlag von Steven Sloane, den Tücken der Partitur; durch die Bewegung in der Halle kommt es zu interessanten Fern- und Nahklängen, zwischen misterioso und markerschütternd bleiben da Details naturgemäß auf der Strecke.

    Aber was soll's, die Halle wird, je mehr an Klängen aufeinander geschichtet wird, zum totalen akustischen Theater - in dem dann, auf der szenischen Ebene, eine konventionelle Inszenierung von Lenzens Soldaten zu sehen ist, nur auf die extreme Steg-Länge gedehnt. Das schafft ein paar starke Bilder, entradikalisiert aber auch Zimmermanns Konzept der großen Gleichzeitigkeit: Es ordnet, was als "Kugelgestalt der Zeit" gedacht ist, auf einer Bühnenachse an.

    So wird allerdings auch die Reizüberflutung reduziert, und man kann ein wunderbares Ensemble bei seiner schweren Kunstarbeit erleben, in dem Claudia Barainsky als Marie herausragt, die das Unmögliche sängerisch möglich macht, soubrettig-kindlich und koloraturfest bis zum tragischen Ton, neben einem kernigen Peter Hoare als Desportes und der perfekt kontrastierenden Schwester Charlotte von Katharina Peetz. Anrührend die alte Mutter Wesener der Hanna Schwarz.

    So werden die Bochumer "Soldaten" zum Festival-Ereignis, zum Außergewöhnlichen, zugleich aber Zimmermanns Visionen eines total-"pluralistischen" All-Theaters auf Opernmaß pragmatisiert. Die Verstörung hielt sich in Grenzen.