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Schmerzhafte Vergangenheit

Dank eines Filmes, der sich um das Zusammenleben der muslimischen, jüdischen und europäische Bevölkerung vor der Unabhängigkeit dreht, wird in diesen Tagen französisch-algerische Vergangenheit bewältigt. "Algerie, histoires à ne pas dire": Geschichten, die nicht gesagt werden dürfen über Algerien - so der Titel. Acht Monate lang filmte Jean-Pierre Lledo die Erinnerungen der Algerier an ihre Mitbewohner, die 1962 das Land verließen. Martina Zimmermann berichtet.

    Besonders bewegend ist die Schlussszene: Alte Algerierinnen mit ihrem weißen Schleier auf dem Kopf singen spanische Weisen, auf die sie in ihrer Jugend in Oran gemeinsam mit ihren damaligen Nachbarn getanzt haben. Denn im algerischen Oran lebten bis 1962 viele Spanier. Vor laufender Kamera erzählt ein alter Mann, wie er unter dem Spitznamen Tchitchi damals als bester Tänzer der Stadt bekannt war. Erst nach mehrmaligem Nachfragen erinnert sich Tchitchi an den 5. Juli 1962, den Tag der Unabhängigkeit. Die Algerier feierten das Ende des Kolonialsystems nach einem blutigen Krieg, der acht Jahre gedauert hatte. Doch am selben Tag wurde in Oran Jagd gemacht auf Europäer; Dutzende wurden getötet. Jean-Pierre Lledo, der Regisseur des Dokumentarfilms:

    " Der Unabhängigkeitskrieg wurde von der nationalen Befreiungsbewegung FLN nicht, wie es immer gesagt wird, mit dem einzigen Ziel geführt, das Kolonialsystem zu beenden. Ein anderes Motiv wird nicht eingestanden: Die Nicht-Muslime sollten das Land verlassen."

    Eine Million Juden und Christen verließen Algerien zu der Zeit, nur wenige blieben, darunter Jean-Pierre Lledo, der damals 14 war, und seine Familie. Sein Vater, ein Spanier, hatte als Kommunist die Freiheitsbewegung unterstützt, seine Mutter war eine Jüdin, deren Familie seit Jahrhunderten in Algerien gelebt hatte. Jean-Pierre Lledo wurde Filmemacher und verließ sein Heimatland erst 1993, nachdem er wie viele andere algerische Intellektuelle Morddrohungen von islamischen Fundamentalisten erhalten hatte

    "Algerien: Geschichten, die nicht gesagt werden dürfen" heisst der Titel seines Films übersetzt. Am im Grunde glorreichen Widerstand gegen die französische Kolonialmacht zu rühren, ist ein Tabu in Algerien. Die dortige Kulturministerin verweigert seit Juli letzten Jahres eine öffentliche Vorführung, offiziell aus technisch-bürokratischen Gründen. Doch für Jean-Pierre Lledo steckt dahinter mehr als die Zensur seines Filmes. "

    " Die Machthaber in Algier sind nicht vom Volk legitimiert. Seit der Unabhängigkeit gibt es weder Demokratie noch echte demokratische Wahlen. Ihre einzige Legitimität beruht auf der Tatsache, dass diese Leute den Unabhängigkeitskrieg geführt haben. "

    Auch in Paris finden nach der Vorführung des Filmes heftige Diskussionen statt. Denn hier besteht das Publikum aus den von der französisch-algerischen Geschichte Betroffenen und deren Nachkommen: Da sind die Enkel der sog. Pieds Noirs, der Algerienfranzosen, Kinder algerischer Juden, aber auch Algerier und ihre in Frankreich geborenen Kinder und Enkel. Eine junge Frau, Tochter von Gastarbeitern aus der Kabylei, ist empört. Denn vor allem in den Bergen der Kabylei führten die Untergrundskämpfer der Nationalen Befreiungsbewegung einen Guerillakrieg gegen die französische Armee, die sich wiederum an der Bevölkerung rächte.

    " Sie klagen Leute an, die seit Jahrhunderten gelitten haben. In manchen Städten, in manchen Vierteln mag es Freundschaften gegeben haben . Aber nicht in der Kabylei, nie im Leben! Dort waren wir Sklaven! Ich meine natürlich meine Eltern. Man hat ihnen ihr Land weggenommen, wir lebten hinter Stacheldraht. Klar verstanden sich manche Leute, aber das war keineswegs die Mehrheit."

    Im Kinosaal befinden sich auch algerische Intellektuelle, von denen viele Jean-Pierre Lledo verteidigen. Eine Petition gegen eine Zensur des Filmes in Algerien hat auch der algerische Journalist und Schriftsteller Yahya Belaskri unterschrieben:

    " Klar muss man daran erinnern, dass das Kolonialsystem sehr hart war für die Algerier und dass die Gewalt von diesem Kolonialsystem ausging. Es ist auch wichtig zu sagen, dass die Unabhängigkeit Algeriens unausweichlich war, das stellen wir nicht in Frage. Aber jetzt müssen wir auch die dunklen Kapitel unserer algerischen Geschichte erkennen.