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"Schöne neue Welt" in Berlin

Der britische Schriftsteller Aldous Huxley erzählte in seinem berühmtesten Roman "Schöne neue Welt" von der Entmenschlichung der Gesellschaft durch wissenschaftlichen Fortschritt. Nun wurde das Werk von der Truppe des Berliner Grips-Theaters um Volker Ludwig für die Bühne bearbeitet. Gestern hatte das Gentechnik-Wohlfühl-Musical Premiere.

Von Hartmut Krug | 03.11.2006
    Huxleys satirisch-utopischer Roman über eine stabile Welt, in der es zwar einerseits weder Kriege, Aggressionen oder Arbeit gibt, in der aber andererseits Liebe und Körperlichkeit, Kunst und eigenes Denken nicht vorgesehen sind und Sex nur virtuell per Chip erlebt wird, erschien 1932. Seine Negativ-Utopie, in der Glück (durch eine Droge) und ewige Jugend bis zum Tode garantiert und die in Flaschen erbrüteten Menschen genormt und mit ihren Eigenschaften vorbestimmt sind, scheint uns durch die Entwicklung von Gentechnik und Schönheitschirurgie heute fast zur Normalität nahe gerückt.

    Wer diesen böse warnenden alten Roman als Musical auf die Bühne zu bringen sucht, der müsste versuchen, für dessen historische, jetzt harmlos wirkende Schärfe eine neue satirische Haltung und Form zu finden, die unsere heutige Realität reflektiert und kommentiert. Doch das Grips-Team um Volker Ludwig bastelt aus der alten Vorlage leider nur wieder eines seiner bunten, munteren Wohlfühl-Musicals. Wo bei den früheren Musical-Erfolgen des Grips, zum Beispiel bei "Linie 1", all die auftretenden, skurril wirkenden Figuren immer doch ihre Wurzeln in der Wirklichkeit hatten, weshalb unter der formalen Glätte des Musicals dann doch immer noch die Realität aufschien, treten in der "Schönen neuen Welt" am Grips diesmal nur noch pittoresk-lustige Phantasie- und Theaterfiguren auf. Vor einem Fries mit virtuellen Bildern und Internet- und Computer-Zeichen tummelt sich eine entsetzlich aufgekratzte und aufgegelte Schar, die in ihren entfesselt bunten Kostümierungen wirkt, als sei sie aus den Kindertheatermärchen alter Zeiten und deren Ausstattungsorgien entsprungen. Regisseur Matthias Davids scheucht seine Darsteller zu immer neuen, unkonzentriert wuseligen Arrangements auf die Bühne, und der Komponist Achim Gieseler umspült sie mit einer seifigen Popmusik, bei der kein einziger Song auch nur in die ferne Nähe von Ohrwurmqualität gelangt. Dieser Theaterabend für Menschen ab 16 und Erwachsene versackt ästhetisch in einem peinlich munteren eia-popeia-Kindertheaterstil. Dass das Grips Theater sich gerade bei diesem Thema in, ja fast vor seine ästhetischen Urgründe zurückzieht, statt sich in irgend einer Weise mit den neuen Formen und Wahrnehmungsweisen unserer modernen Medienwelt auseinander zu setzen, ist völlig unverständlich. Und wenn bei Huxley Triebbefriedigung als entfremdeter Vorgang, aber oberstes Gebot gezeigt wird, dann hätte man auch am Grips nach den Texten von Houellebecq mehr als szenische und inhaltliche Niedlichkeiten erwartet. Wenn Michel Houellebecq in seinem Roman "Elementarteilchen" zu Recht darauf hinweist, das Huxleys Roman allgemein als totalitärer Alptraum und scharfe Anklage gesehen wird, wo doch die dort beschriebene Welt genau das Paradies sei, das wir mittlerweile anstreben, dann hätte eine Inszenierung genau im Spannungsfeld dieser beiden Sichten ihre Haltung finden müssen. Der Wilde, der aus Mexiko in die schöne neue Welt geholt wird, geht im Roman zugrunde. Huxley hat später gesagt, er würde seinen Helden wohl jetzt überleben lassen. Das tut auch Volker Ludwig: er lässt der Liebe zwischen dem Wilden und einem Beta-Mädchen, das Kathrin Osterode mit schöner Musicalstimme als kleine Barbiepuppe spielt, im offenen Schluss eine Chance, weil der World Controller mit deren ersten, auf körperliche Weise "hergestelltem" Kind neue Gene erhofft. Doch diese Liebesgeschichte wirkt einfach nur kitschig und albern, so wie sie hier gespielt wird: vorgetragen und gesungen mit schlichten Reimtexten, dazu völlig ungebrochen und unironisch mit Shakespeare-Zitaten untermalt. Wenn sie dann noch in der "Romeo-und-Julia"-Geschichte gespiegelt wird, mag man gar nicht mehr hinhören.

    Auch das Grips Theater darf einmal scheitern, und diesmal ist es kräftig auf die Nase gefallen. So klang auch der Applaus des Publikums, das zu großen Teilen aus von Grips sozialisierten Sympathisanten bestand, deutlich müde und enden wollend.