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Schuberts Unvollendete ausgespielt

Musikbeispiel: Franz Schubert - 3. Satz (Fragment) aus: Sinfonie Nr. 7 "Unvollendete"

Von Ludwig Rink |
    Wenn diese viel versprechende Musik an dieser Stelle abreißt, so ist das keine technische Panne, wie sie auch im Deutschlandfunk-Programm mal vorkommen kann. Nein, von diesem dritten Satz einer Sinfonie hat ihr Schöpfer, Franz Schubert, nicht mehr hinterlassen als diese paar Töne. Meist werden sie nicht gespielt, man hat sich daran gewöhnt, dass die "Unvollendete" eben nur aus zwei Sätzen besteht. Doch auf einer neuen CD mit den Sinfonien 1, 3 und 7 haben die Bamberger Symphoniker jetzt auch einmal diesen Torso zum Klingen gebracht. Diese CD ist Teil eines größer angelegten Konzert- und Aufnahmeprojektes, das innerhalb von zwei Jahren das symphonische Gesamtwerk Schuberts, also sämtliche Sinfonien und die Ballettmusiken zu "Rosamunde" in den Bamberger Konzertsaal und auf CD bringen soll. Partner bei der Aufnahme sind der Bayerische Rundfunk und die Schweizer Plattenfirma Tudor, die schon eine ganze Reihe anderer Einspielungen mit diesem Orchester realisiert haben.

  • Musikbeispiel: Franz Schubert - 1. Satz (Ausschnitt) aus: Sinfonie Nr. 7 "Unvollendete"

    In die Schlagzeilen geraten waren die Bamberger Symphoniker in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang mit der beliebten Spardiskussion im Kulturbereich. Gewachsen aus Prager Musikern, die nach dem 2. Weltkrieg nach Bamberg kamen und dort mit anderen Flüchtlingen aus dem Osten dieses Orchester gründeten, erhielten die Bamberger wegen ihrer hohen musikalischen Qualität, aber auch aus politischen Gründen jahrzehntelang Zuschüsse aus Bundesmitteln. Nach der Wende stellte der Bund diese Mittel zunehmend infrage, wollte sich bis 2004 ganz aus der Finanzierung verabschieden. Inzwischen hat das Land Bayern seine Verantwortung gegenüber diesem überregional bedeutenden Orchester erkannt und die Bamberger Symphoniker zur "Bayerischen Staatsphilharmonie" gemacht. Als ebenso wichtig wie diese Absicherung der finanziellen Basis stellt sich in der Rückschau aber auch die im Jahre 2000 erfolgte Berufung des Engländers Jonathan Nott zum Chefdirigenten heraus: mit dem heute 42jährigen begann auch musikalisch eine neue Ära in der Geschichte des Orchesters, die eng mit Persönlichkeiten wie den beiden langjährigen Chefdirigenten Joseph Keilberth und Horst Stein, aber auch mit Namen wie Rudolf Kempe, Hans Knappertbusch, Clemens Kraus, Erich Leinsdorf, Eugen Jochum, Georg Solti oder auch Ingo Metzmacher verknüpft ist.

    Jonathan Nott studierte in Cambridge Flöte, in Manchester Gesang und in London Dirigieren. Seine Laufbahn als Dirigent begann 1988 beim Opernfestival in Battignano. Als Korrepetitor und Kapellmeister war er an der Frankfurter Oper und am Hessischen Staatstheater Wiesbaden angestellt. Inzwischen hat er mit vielen renommierten Orchestern wie dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, dem WDR Sinfonieorchester, den Moskauer Philharmonikern oder in Norwegen mit der Bergener Philharmonie gearbeitet. Er betreute Uraufführungen von Komponisten wie Brian Ferneyhough, Wolfgang Rihm und Helmut Lachenmann und stand häufig bei den Spezialensembles für Neue Musik am Pult, beim Ensemble Modern, der London Sinfonietta, dem Ensemble Recherche Freiburg.

    Neben den "Bambergern" betreut er als Chef auch das Ensemble Intercontemporain, eine hoch motivierte Spezialistengruppe für Neue Musik in Paris. Und genau diese Kombination aus klassischem Repertoire auf der einen und großem Engagement für die zeitgenössische Musik auf der anderen Seite macht diesen Dirigenten für das Bamberger Orchester und inzwischen auch für das Publikum so interessant. Von Anfang an sorgte Jonathan Nott für Gegenüberstellungen in den Programmen, seien es Kombinationen von Ligeti und Mahler, Nono und Mozart oder Takemitsu und Rachmaninow. Und auch das Schubert-Projekt setzt den Romantiker in Bezug zu Musik unserer Zeit: Parallel zur Gesamtaufnahme der Sinfonien erscheinen eine ganz Reihe von Werken, in denen Komponisten von heute Musik von Schubert zum Ausgangspunkt eigener Schöpfungen nehmen. Hier ein erstes Beispiel: Der Beginn des Orchesterwerks "Rendering" von Lucianio Berio, der zunächst marschartig in Schubert'schem Duktus verläuft, dann aber nach dem Seitensatz abdriftet in vage Modulationen, fremde Klangwelten und Dissonanzen.

  • Musikbeispiel: Luciano Berio - Beginn des 1. Satzes aus: "Rendering"

    Berio schlüpft bei diesem Werk sozusagen in die Rolle eines Restaurators, der Skizzen zu Schuberts 10. Sinfonie nicht vollendet, sondern nur das Vorhandene auffrischt und dabei die durch Nicht-Fertigstellung oder Verlust im Lauf der Zeit entstandenen "blinden Stellen" akzeptiert. Schuberts Entwürfe in Notation fürs Klavier wurden dabei um mittlere und untere Stimmen ergänzt und auf die Orchesterinstrumente verteilt. Die verbleibenden Lücken hat Berio durch ein sich ständig veränderndes musikalisches Gewebe verbunden, immer leise und wie von fern, untermischt mit Anklängen an das Spätwerk Schuberts.

    In der Tat ist es erstaunlich, wie viele Zeitgenossen sich in den letzten Jahren mit Schuberts Musik kompositorisch auseinandergesetzt haben. Ob es nun am besonderen Klang, am Melodischen dieser Musik liegt, ob es ihre relativ offene harmonische oder formale Konzeption ist oder der in ihr spürbare Aufbruch in eine neue, romantische Zeit - diese erste CD mit Zeitgenössischem zu Schubert bietet jedenfalls neben Berios gut halbstündigem Orchesterwerk noch Metamorphosen von Aribert Reimann über ein Schubert-Menuett, eine Erlkönig-Fantasie von Hans Werner Henze, Schubert-Chöre von Hans Zender und einen Epilog zu Rosamunde von Kurt Schwertsik. Dabei sind die gewählten Verfahren sehr unterschiedlich: Reimann z.B. schafft ein subtiles Gespinst von Altem und Neuem für Kammerensemble, bei Henze bleibt vom "Erlkönig" vor allem der drängende, unheilschwangere, äußerst bewegte Gestus, Zender lässt den Vokalpart der Chöre unangetastet und bringt eigene "komponierte Interpretation" in der hinzugefügten Orchesterbegleitung unter.

  • Musikbeispiel: Hans Zender - Nr. 3 ‚Der Gondelfahrer' aus: Schubert-Chöre

    Aber nicht nur wegen ihrer Kontrapunkte in Form "Neuer Musik mit Schubert" ist dieser erste Teil der Gesamtaufnahme der Orchesterwerke Schuberts durch die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Jonathan Nott hörenswert. Auch "Schubert selbst" wird äußerst spannend und stellenweise überraschend neu dargestellt. Das liegt einmal daran, dass auf den Pulten die erst kürzlich herausgegebene Urtext-Ausgabe liegt. Und dann ist gerade bei Schubert der Interpretationsspielraum relativ groß, vieles ist nicht notiert, bleibt offen, manches ist geradezu unlogisch oder unverständlich, denn Schubert hatte nur sehr wenig Erfahrung mit richtigen Aufführungen seiner Sinfonien durch ein Orchester, nach denen er etwas hätte verändern, korrigieren oder in den Noten deutlicher darstellen können. Deshalb ist hier mehr als anderswo der im Detail mitdenkende Interpret, sind ganz bewusste Entscheidungen gefragt, eine Vorgehensweise, ohne die gerade die Spezialisten Neuer Musik kaum ein Werk auf das Konzertpodium bringen könnten. Auch aus diesem Blickwinkel ist Nott also der richtige Mann am richtigen Platz. Ihm gelingen temperamentvolle, musikalisch stimmige Interpretationen, durchdacht, klanglich ausgelotet und dennoch auch voll musikantischer Spielfreude. Kein falsches Pathos, keine aufgesetzte Gefühlsschwere; im Vordergrund steht die Darstellung der musikalischen Zusammenhänge.

  • Musikbeispiel: Franz Schubert - 4. Satz: Presto vivace (Ausschnitt) aus: Sinfonie Nr. 3

    Die Neue Platte - heute mit zwei CDs aus dem Hause der Firma Tudor, beide mit den Bamberger Symphonikern unter der Leitung von Jonathan Nott. Die eine bietet die Schubert-Sinfonien 1, 3 und 7, die andere Neue Musik mit Schubert-Bezug von Berio, Reimann, Henze, Zender und Schwertsik.
  • Bamberger Symphoniker: Schubert Epilog (Cover)
    Bamberger Symphoniker: Schubert Epilog (Cover) (Tudor)