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Schützengrabenverbindende Hymne

"Lili Marleen", geschrieben von dem Soldaten Hans Leip und vertont von dem Kabarett- und Theaterkomponisten Norbert Schultze, ist Allgemeingut und zu seinem Erkennungszeichen geworden: Dieses Lied hörte man über Grenzen hinweg. Goebbels hasste "die Schnulze mit dem Totentanzgeruch", wie er "Lili Marleen" nannte, konnte ein Verbot auf Dauer aber nicht durchsetzen. Eine umfangreiche Hörbuch-Edition widmet sich jetzt der Geschichte und der Wirkung dieses Liedes.

Von Stephan Göritz |
    So klingt es, wenn die Laterne vor einer fernöstlichen Kaserne steht. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen in friedlicherer Zeit bleibt die gleiche, denn "Lili Marleen" ist auch in Japan zuhause, in der "Straße der Sehnsucht", wie das Lied in japanischer Nachdichtung heißt. Der spektakuläre Erfolg von "Lili Marleen", dem wohl am häufigsten interpretierten, adaptierten, variierten und parodierten Liebeslied des zwanzigsten Jahrhunderts, gibt bis heute Rätsel auf. Schließlich sind die Zutaten alles andere als genial: Ein Text, der mit viel Wohlwollen als schlicht durchgehen kann, eine Komposition, die sich nicht entscheiden mag, ob sie Romanze sein will oder Marschlied, und mit Lale Andersen eine Ur-Interpretin, die sich beim Sprechgesang hörbar wohler fühlte als bei großen Melodiebögen. Doch all das interessiert kein Publikum, wenn ein Lied nur formuliert, was jeder im Innersten denkt und fühlt:

    "Die Sehnsucht nach der Heimat, die Angst, im Krieg zu sterben, die Sehnsucht nach der Familie und möglicherweise auch die Sehnsucht nach Frieden, die ja die meisten Menschen erstmal so haben."

    – sagt Gisela Lehrke, Lale-Andersen-Biografin und Kulturamtsleiterin in deren Geburtsstadt Bremerhaven. Auch Gisela Lehrkes Forschungsergebnisse flossen ein in die umfangreiche Edition, die jetzt in der Geschichte dieses Werkes Zeitgeschichte erlebbar machen will. Dafür ist ein Schlager besonders geeignet, weil er –

    " – so verzahnt ist mit der Zeit und viel offener ist für Einflüsse von außen als meinetwegen ein Roman, den man sich da irgendwo im Elfenbeinturm abkneift."

    – meint Kabarettforscher Volker Kühn, der zusammen mit Horst Bergmeier und Rainer E. Lotz einer der drei Autoren des Buches ist, die sich an der Quadratur des Kreises versuchen. In einem fortlaufenden Text erfahren wir, wie dieses Lied entstand, lesen von politischen Hintergründen, bekommen das Leben der Autoren erzählt und werden durch die Wirkungsgeschichte von "Lili Marleen" geführt. All das geschieht ineinander verschränkt, angereichert mit detaillierten Informationen zu Textfassungen, Arrangements und Aufnahme-Umständen der fast zweihundert Interpretationen, die auf den sieben beigefügten CDs versammelt sind. Die Fülle des Materials zu bändigen, war die größte Schwierigkeit, aber auch der größte Reiz für die Autoren:

    "Wenn ich weiß, wie was funktioniert, langweilt es mich ganz schnell. Ich bin immer zu haben für Projekte, wo ich nicht genau weiß, geht das überhaupt."

    Es geht – und zwar auf spannende und häufig überraschende Art. Man legt diese Edition kaum wieder aus der Hand, bevor die letzte Seite gelesen und die letzte Aufnahme gehört ist. Auch der in der Kabarett- und Schlagergeschichte Bewanderte dürfte hier viel Neues erfahren. Dass der "Lili-Marleen"-Texter Hans Leip seine beiden Geliebten Lili und Marleen in einer Figur verschmelzen ließ, ist eine gern wiederholte Anekdote. Schon weniger bekannt ist, dass diesem Lied der Welterfolg erst in der dritten Vertonung gelang. Die erste war ein laienhafter Versuch des Texters selbst, die zweite ein anspruchsvolles Kunstlied des Hindemith-Schülers Rudolf Zink. Beide sind lang vergessen, aber hier wiederzuentdecken. Die meisten Interpretationen gehen natürlich von der bekannt gewordenen dritten Vertonung aus, in der der Komponist Norbert Schultze mit einem unterschwelligen Marschrhythmus die Bedrohung der Liebe auch musikalisch hörbar machte. Doch wem ist schon bewusst, dass oft die dritte Strophe weggelassen wurde? Die enthält nämlich den Hinweis, dass die verspätete Rückkehr in die Kaserne drei Tage Arrest kostet – eine Strafe, die im Zweiten Weltkrieg deutlich höher war. Und damit wäre jedem klar gewesen, dass diese schützengrabenverbindende Hymne aller Soldaten des Zweiten Weltkriegs schon im Ersten Weltkrieg geschrieben wurde.

    Musikalisch und interpretatorisch hat man mit diesem Lied wohl alles getrieben, was überhaupt denkbar ist. Die stilistische Bandbreite reicht vom Kabarettchanson bis zu Jazz und Punk, von treuherzigen Romanzen, die in der Gefühlsseeligkeit von Text und Melodie geradezu baden, über Parodien, die genau dieses Sentiment ruppig abschütteln, bis hin zu einer 1943 bei der BBC eingespielten Propagandafassung mit Lucie Mannheim. Sie wollte nicht Lilli Marleen an der Laterne stehen, sondern Hitler an eben dieser hängen sehen:

    So ist diese Edition erhellend und desillusionierend in einem, zeigt sie doch, wie dasselbe Lied für ganz gegensätzliche Botschaften benutzt werden kann. Aber es darf auch geschmunzelt werden, obwohl es um ein Lied aus dunkelster Zeit geht. Denn selbst dem, der etwa schon immer wissen wollte, wie wohl Wolfgang Amadeus Mozart "Lili Marleen" als tändelnde Arie komponiert hätte, wird die Antwort nicht vorenthalten. Und man darf sich freuen an den leuchtenden Farben der vielen sorgfältig reproduzierten Plakate, Programme und Plattenhüllen, die schon das Aufschlagen jeder Seite dieses großformatigen Prachtbandes zum Genuss machen. Sachfehler allerdings lassen Ärger aufkommen. So lesen wir auf Seite 9, dass es der Autor Hans Leip war, der seinem "Lili-Marleen"-Text schon 1915 den Untertitel "Lied eines jungen Wachtpostens" gegeben hatte. Auf Seite 12 war das dann plötzlich die marktstrategische Idee der Plattenfirma, als sie mit der Lale-Andersen-Einspielung 1939 vor allem junge Soldaten ansprechen wollte. Und wenn anlässlich der "Lili-Marleen"-Interpretation der Schauspielerin Judy Winter vermerkt wird, sie hätte unter anderem in dem Film "Die Reifeprüfung" mitgespielt, dann ist natürlich nicht der Kino-Klassiker mit Dustin Hoffman gemeint, sondern der Fernsehkrimi "Reifezeugnis".

    Geschrieben wurde dieses faktenreiche Buch in einer lebendigen, bildhaften Sprache. Der Blick der Autoren ist wach genug zu bemerken, was oft übersehen wird: zum Beispiel, dass in dem bekanntesten Lied über eine Liebe im Krieg weder das Wort "Liebe" noch das Wort "Krieg" vorkommt und dass die Wirklichkeit neben der Laterne dennoch deutlich zu spüren ist. Oder ist sie es gerade deshalb? Es ist neben der Materialfülle die große Stärke des Buches, dass es sich die Schwäche leistet, Unbeantwortbares unbeantwortet zu lassen. Die Gründe für die überwältigende Popularität dieses Liedes können nicht ohne Rest geklärt werden, denn "Lili Marleen" passt in kein Schema. Es ist eben weder kriegsverherrlichend noch aufrührerisch, und die Autoren halten das aus. Genau wie die Widersprüchlichkeit der Menschen, die das Lied schufen oder mit ihm umgingen.

    Der Texter Hans Leip sympathisierte durchaus mit dem NS-Regime und schrieb für den "Völkischen Beobachter", er setzte sich aber auch für den verfolgten jüdischen Philosophen Theodor Lessing ein. Norbert Schultze, der "Bomben auf Engelland" komponiert hatte und deshalb Bomben-Schultze genannt wurde, komponierte mit "Lili Marleen" ein Lied, das für die drei Minuten seiner Dauer an allen Fronten die Waffen schweigen ließ. Und auch das Publikum verhielt sich widersprüchlich. Es sah in Lale Andersen die personifizierte Lili Marleen und lag ihr zu Füßen – aber nicht nur. Das bekam ihre Geburtsstadt Bremerhaven zu spüren, als sie 'ihrer' Künstlerin sechsunddreißig Jahre nach dem Krieg ein ungewöhnliches Denkmal setzte – erinnert Gisela Lehrke:

    "In Bremerhaven wurde 1981 eine Laterne aufgestellt und eine Gedenktafel an Lale Andersen, die "Lili Marleen" (war), kurz gefasst. Und eines Nachts hat man an die Laterne eine Puppe gehängt, 'ne Stoffpuppe, 'ne riesengroße, um darauf aufmerksam zu machen, dass während der Nazizeit Frauen, die sich mit Juden einließen, an der Laterne aufgehängt wurden."

    Ein Protest, der Lale Andersen missverstand als Galionsfigur des Dritten Reiches. Dabei wurde sie von Goebbels & Co. keineswegs hofiert. Doch differenzierte Vergangenheitsbetrachtung ist eben nicht so beliebt wie eingängige Lieder.

    "(Es) passte nicht so in das Schwarz-Weiß-Denken, dass eine Frau ein Lied singt, das gesendet wird von einem nationalsozialistischen Sender, nämlich dem Sender Belgrad, und dass sie gleichzeitig verfolgt wird, weil sie in Kontakt zu Juden in der Schweiz steht und dann Auftrittsverbot erhält."

    Wunderbar aber passen solche Geschichten jenseits jedes Gut-und-böse-Schemas in dieses gar nicht schematisch gedachte Buch.

    Stephan Göritz über das Hörbuch "Lili Marleen an allen Fronten. Das Lied, seine Zeit, seine Interpreten, seine Botschaften". Die 7 CD-Box mit 184-seitigem Begleitbuch im LP-Format ist erschienen bei Bear Family Records Vollersode; der ungefähre Ladenpreis beträgt 149 Euro.