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Schule macht Wahlkampf

Den Ganztag fördert mittlerweile auch die schwarz-gelbe NRW-Landesregierung – insbesondere in Grund- und Hauptschulen. Die Opposition möchte die Hauptschule nach einem Wahlsieg abschaffen und das längere gemeinsame Lernen flächendeckend einführen.

Von Ilka Platzek |
    Die Gesamtschule Scharnhorst ist rein optisch betrachtet eine echte Lernfabrik: groß, grau und eckig. 150 bis 160 Grundschulabgänger beginnen hier jedes Jahr ihre höhere Schullaufbahn. Über 60 Prozent von ihnen sind Zuwandererkinder, über 50 Prozent kommen mit einer Hauptschulempfehlung. Ihre Eltern schicken sie auf die Gesamtschule, weil sie hoffen, dass sie einen besseren Schulabschluss schaffen. Davon träumt auch der 15-jährige Hatim aus Marokko. Er besucht die 9. Klasse und hat sich von der Hauptschulempfehlung bereits auf die Fachoberschul-Empfehlung hochgearbeitet. Aber das reicht ihm noch nicht.

    "Ich möchte die Fachoberschulreife mit Qualifikation machen ... Mit Qualifikation kann man in die Oberstufe wechseln, und mit der normalen Fachoberschulreife kann man nicht in die Oberstufe."

    Sollte Hatim es schaffen und in einigen Jahren Abitur machen, würde er zu den Absolventen gehören, auf die die Schule besonders stolz ist: Über 60 Prozent der Abiturienten an der Gesamtschule Scharnhorst haben nämlich einen Migrationshintergrund. Schulleiter Heinrich Jost glaubt, dass viele dieser Schüler am Gymnasium gescheitert wären. Deshalb ist er überzeugt vom pädagogischen Konzept der Gesamtschule. Ihm und seinen Mitstreitern geht es um Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit.

    "Wir müssen gucken, dass wir gemeinsam länger lernen, das war eine der ersten Gesamtschulforderungen und das Zweite war, dass man eine Lernorganisation findet, die es erlaubt, Kinder nicht früh zu selektieren, also nicht früh Bildungsgänge oder Ausbildungsziele festzulegen, sondern Schullaufbahnen offen zu halten um nach und nach zu sehen, welche Neigungen ein Kind entwickelt und zu welchen Lernleistungen es fähig ist."

    Heute sind es überwiegend Kinder aus Zuwandererfamilien, die von diesem Ansatz profitieren, früher waren es in erster Linie Arbeiterkinder. Gerold Heyden zum Beispiel, erst Schüler, jetzt Lehrer an der Gesamtschule Scharnhorst. Sein Vater war Stahlkocher bei Hoesch, die Mutter Hausfrau.

    "Rein schulisch war keine Unterstützung möglich. Da war die Gesamtschule für mich sehr hilfreich, weil man den ganzen Tag hier war, so eine Art Rundumbetreuung, man hatte die Schüler lange hier, es gab ja schon Arbeitsstunden, Silentien und all solche Sachen ... das Ganze wurde hier der Lebensmittelpunkt, und man konnte sich entsprechend entfalten."

    Nach einem Jahr auf der Realschule, die er als diktatorisch in Erinnerung hat, kam er Anfang der 70er auf die Gesamtschule und fühlte sich gleich wohl:

    "Es war hier sehr frei, ich habe die Lehrer als sehr schülerfreundlich in Erinnerung, sehr unterstützend, ... sodass ich eine sehr positive Bilanz ziehe und auch gerne hier arbeite, und auch gerne ein bisschen was zurückgebe, sofern ich das kann."

    Als die ersten Versuchsschulen im damals SPD-regierten NRW ihren Betrieb aufnahmen, wurden sie von allen Seiten kritisch beobachtet: Vieles war neu und den Zeitgenossen unheimlich. Gruppenarbeit zum Beispiel oder Projektwochen. Erst wurden beide als Teufelswerk bezeichnet, sagt Rektor Jost.

    "Es hat fünf bis zehn Jahre gedauert, da war das die gefragte Unterrichtsform in allen Schulformen."

    Neu waren auch die Ganztagsbetreuung und das gemeinsame Lernen in den Klassen 5 und 6. Den Ganztag fördert mittlerweile auch die schwarz-gelbe NRW-Landesregierung – insbesondere in Grund- und Hauptschulen. Die Opposition möchte die Hauptschule nach einem Wahlsieg abschaffen und das längere gemeinsame Lernen flächendeckend einführen. Die CDU ist dagegen. Heinrich Jost sagt nicht ohne Stolz:

    "Die Diskussion in dieser Gesellschaft wird an unserer Schulform nicht vorbeikommen, egal, wie man sie nennt, aber sie wird an unserer Schulform nicht vorbei kommen."

    An einer Schulform, in der bis in die 9. Klasse hinein niemand sitzen bleibt, auch nicht mit Fünfen in Hauptfächern.

    "Bei uns kommen sie auf ein anderes Lernniveau. Wenn sie im E-Kurs sind, kommen sie in den G-Kurs, also vom Erweiterungs- in den Grundkurs, und werden da mit geringeren Anforderungen weiter betreut, in der Annahme, im nächsten Schuljahr die Defizite aufzuholen und weiterzukommen. Warum soll denn jemand, der in Mathe eine 5 hat, alle anderen Fächer auch wiederholen? ... Das ist nicht nötig, das ist verschenkte Zeit."

    Klingt einleuchtend, aber was haben starke Schüler davon, gemeinsam mit Schwachen unterrichtet zu werden? Nichts, meinen Kritiker. Eine ganze Menge, glaubt die Schulpflegschaftsvorsitzende Christiane Kleiner. Ihr Sohn hatte ursprüngliche eine Gymnasial-Empfehlung, aber sie entschied sich dazu, ihn auf die Gesamtschule zu schicken.

    "Ich hatte schon ein Kind am Gymnasium, da fällt man direkt ins kalte Wasser und wird nicht als kleiner Mensch behandelt. An der Gesamtschule wird man aufgefangen. Die haben am Anfang gemeinsame Frühstücke gemacht, haben einen Atlas-Führerschein gemacht, ... dass man weiß, wo sich welche Länder befinden ... Das ist ein Grundwissen, was in den Gymnasien nicht so vermittelt wird."

    40 Jahre nach ihrer Gründung sind die Gesamtschulen in NRW zum Erfolgsmodell geworden – zumindest aus Sicht vieler Eltern. Die haben sich nämlich längst gegen die Hauptschule entschieden. In Dortmund zum Beispiel wurden zum kommenden Schuljahr nur sechs Prozent aller Schüler an Hauptschulen angemeldet, aber 25 Prozent an den Gesamtschulen. Doch oft können die Gesamtschulen gar nicht alle Anmeldungen berücksichtigen, denn sie sind seit Jahren überlaufen. Dieses Jahr mussten sie landesweit 14.000 Bewerber ablehnen, überwiegend Schüler mit Hauptschulempfehlung. Dort werden sie wohl auch landen, ganz im Sinne der Landesregierung, die die Hauptschulen retten will. Der Landeselternrat der Gesamtschulen kritisiert, dass Neugründungen regelmäßig verhindert werden. Die NRW-CDU hat erst kürzlich demonstriert, was sie von der Gesamtschule hält: Zum 40. Geburtstag ließ die Schulministerin Glückwünsche übermitteln – durch ihren Staatssekretär.