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Sitzenbleiben? - Ja, gerne!

Sitzenbleiben, eine Ehrenrunde drehen, die Stufe wiederholen. Eigentlich macht das ja niemand gerne. Aber: Manche Schüler wiederholen in der Oberstufe freiwillig ein Jahr. Mit diesem Trick können Schüler und Eltern das G8-System umgehen.

Von Anja Nehls | 20.10.2015
    Noten auf einem Schulzeugnis.
    Noten auf einem Schulzeugnis. (picture alliance / dpa / Ina Fassbender)
    Myriam Grunert ist in der 12. Klasse eines Potsdamer Gymnasiums. Für die meisten ihrer Mitschüler ist die Schulzeit im kommenden Sommer endgültig vorbei, aber nicht für sie. Obwohl ihre Leistungen locker für einen Notendurchschnitt zwischen 2 und 2,5 reichen würden, will sie zum Abitur nicht antreten und das letzte Jahr in der Oberstufe wiederholen - freiwillig:
    "Also mit den 12 Jahren das geht mir alles viel zu schnell. Ich weiß noch nicht, was ich machen möchte. Aber im Vordergrund steht, dass ich einen besseren Abidurchschnitt haben möchte. Um später, wenn ich mal studieren möchte, einfach bessere Chancen zu haben, einen Studienplatz zu bekommen. Ja, deshalb möchte ich noch mal zurückgehen."
    Legale Umschiffung von G8
    Eine gute Idee, findet Miriams Mutter, die sich mit dem System G8, also dem Abitur nach nur 12 Jahren noch nie wirklich anfreunden konnte. Also stellte sie an der Schule einen entsprechenden Antrag, der auch bewilligt wurde. Das System G8 kann so ganz legal und im Rahmen des Schulgesetzes umschifft werden, denn theoretisch kann ein Schüler sogar vier statt wie vorgesehen zwei Jahre in der Oberstufe verweilen.
    Einen Antrag auf das Wiederholen eines Jahres bekommt Uta Paubandt vom Werner-von-Siemens-Gymnasium im bürgerlichen Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf immer häufiger. Hauptsächlich wird er damit begründet, dass der Schüler sich mit der Wahl der Leistungskurse vertan habe oder noch nicht die nötige Reife habe:
    "Also mein Eindruck ist es auch, dass es zunimmt und wahrscheinlich in den nächsten Jahren auch noch zunehmen wird. Das hängt damit zusammen, dass die Schülerinnen und Schüler, die in die Oberstufe kommen, aus meiner Sicht jünger werden und die Entscheidung sehr frühzeitig in dem Alter gefällt werden muss und die Tragweite dieser Entscheidung vielleicht noch gar nicht ganz klar ist."
    Überdurchschnittlich viele Wiederholer in reichen Bezirken
    12 von gut 160 Schülern der Oberstufe haben in diesem Jahr am Werner-von-Siemens-Gymnasium ein Jahr der Oberstufe wiederholt. Berlinweit sind es 8,6 Prozent der Schüler an Gymnasien. Ob ein Schüler wiederholt, weil die Leistung für das Abitur nicht reichen würde, weil er z. B. lange krank war, oder ob er einfach seine Note verbessern will, wird in den Zahlen der Berliner Bildungsverwaltung nicht unterschieden. Auffällig ist aber, dass es weit überdurchschnittlich viele Wiederholer in den reichen, bürgerlichen Bezirken mit überwiegend bildungsorientierten Elternhäusern gibt. Harald Rehnert, den stellvertretenden Schulleiter vom Werner-von-Siemens-Gymnasium wundert das nicht:
    "Der Druck auf die Schüler ist in jedem Fall deutlich größer als früher. Ob das von den Eltern kommt oder von den Erwartungen der Universitäten oder von den Schülern selbst, das kann ich nicht sagen. Aber ich merke schon, dass man sehr, sehr auf Noten guckt, bei uns."
    Das kann Jens Stiller, Schulleiter im benachbarten Dreilinden-Gymnasium bestätigen. Und: Die Rechnung von Schülern und Eltern kann aufgehen:
    "Die Erfahrungen sind recht gut mit den Zurückgetretenen, die schneiden in er Regel, um es ganz grob zu sagen, um 0,5 Notenpunkte dann am Ende besser ab. Also wer vielleicht mit einer 2,5 im Abi prognostiziert durchs Ziel gegangen wäre, kommt jetzt vielleicht mit 2,0 durch."
    Zahl der Wiederholer geht insgesamt zurück
    Das Gymnasium entscheidet über die Anträge und da ist die Einstellung der Lehrerschaft entscheidend. Am Dreilinden- genauso wie am Werner-von-Siemens-Gymnasium wird zwar über jeden Antrag intensiv diskutiert, aber am Ende im Sinne der Schüler zugestimmt. Ob damit das System G8, also Abitur nach 12 Jahren, von besonders gewitzten Eltern und Schülern quasi von unten ausgehebelt wird - dazu wollte sich die SPD-Schulsenatorin nicht äußern. Sie verweist darauf, dass berlinweit die Zahl der Wiederholer insgesamt zurückgegangen sei. Stefanie Remlinger, Bildungsexpertin der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus findet aber, dass man im Sinne der Gerechtigkeit über das Schulgesetz an dieser Stelle nachdenken könnte:
    "Dass man vielleicht diese etwas ängstliche Einräumung, ihr dürft auch 13 Jahre am Gymnasium machen, überdenken könnte. Es ist dann auch nicht gerecht, wenn ich zweimal dasselbe mache, dass ich dann die Prüfung besser bestehe, als jemand, der das praktisch in Echtzeit macht."
    Das sieht Martin Delius von den Piraten anders. Jeder könne schließlich ganz individuell den Weg und die Schule wählen, die seinen Bedürfnissen am meisten entsprächen. Jeder habe die Möglichkeit zu einem freiwilligen Rücktritt:
    "Weil das jetzt ist, weil man die 1,1 für den Medizinstudiengang oder die 1,0 braucht, oder ob es einfach Mittel zum Erreichen eines qualifizierenden Abschlusses ist, das ist eigentlich erst mal egal, dafür ist das Instrument ja auch gedacht. Das ist dann auch ok, wenn einzelne Schule da laxer mit umgehen oder nicht. Das sollen die Schulen entscheiden."
    Myriams Schule hat bereits entschieden. Ein Jahr länger ist für Myriam kein Problem. Das Leben sei noch lang. Jetzt will sie sich einfach noch möglichst viele Türen offen halten.