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Sechs Monate Mindestlohn
Ausbeutung ist an der Tagesordnung

Seit einem halben Jahr gilt in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn. Trotzdem können einige Arbeiter von einem Gehalt von 8,50 Euro pro Stunde nur träumen. Einer von ihnen war der Rumäne Liviu. Für 574 Euro netto pro Monat hat er in einer deutschen Schlachterei geschuftet - und wurde dann auch noch um Lohn geprellt.

Von Manfred Götzke | 01.07.2015
    Hühner in einem Geflügelschlachthof
    Bis zu 15 Stunden am Tag arbeitete Liviu in einem Geflügelschlachthof. (dpa / picture alliance)
    Arbeitsberater Alexandru Zidaru und sein rumänischer Klient wühlen sich durch die Akten. Zwei Leitzordner hat der Mann, den wir hier Liviu nennen, in das Gewerkschaftsbüro in der Gelsenkirchener City geschleppt. Arbeitsverträge, Lohnabrechnungen, Kündigungen. Sechs Monate hat er in der Kühlhalle einer deutschen Schlachterei geschuftet. Dann wurde er um seinen Lohn geprellt. Berater Zidaru versucht, ihm zu helfen, weil Liviu weder Deutsch spricht, noch den deutschen Arbeitsmarkt kennt.
    Liviu: "Schauen sie: Was steht hier genau drin? Dass ich den Lohn bekommen habe oder dass mir der restliche Lohn verweigert wird?"
    Zidaru: "Hier steht: Mit meiner Unterschrift bestätige ich, dass ich die Kündigung erhalten und zur Kenntnis genommen habe und dass ich alle Löhne bekommen habe."
    Liviu: "Eine Schweinerei, den Lohn habe ich eben nicht bekommen! Ich habe diese Kündigung unterschrieben, der Chef hat uns gesagt, das Geld gibt’s später, aber ich habe es bis heute nicht bekommen."
    Alexandru Zidaru kommt ebenfalls aus Rumänien, er hat in Deutschland in Geschichte promoviert - und ist vor zwei Jahren hier in der Beratungsstelle "Faire Mobilität" gelandet. Mittlerweile ist er Experte für deutsches Arbeitsrecht. Der 33-Jährige klärt rumänische Arbeiter über ihre Rechte auf. Die meisten wissen nichts von einem Mindestlohn oder geregelten Arbeitszeiten.
    Liviu: "Wir haben sechs, manchmal sieben Tage die Woche gearbeitet, meistens zehn, zwölf Stunden manchmal aber auch 15 Stunden am Tag, wenn’s nötig war. Wir haben Fleisch verarbeitet. Hühnerfleisch. Die Knochen entfernt, die Haut abgezogen und dann das Fleisch in Scheiben geschnitten, für Dönerspieße. Wir haben durchgearbeitet, manchmal waren es 100 Stunden pro Woche. Und zwar in einer Kühlhalle, bei 3 Grad. Es war sehr viel Arbeit, aber der Lohn war immer derselbe. Netto 500 Euro pro Monat."
    "Meine Frau konnte nicht mehr, sie hat es nicht mehr geschafft zur Arbeit zu gehen"
    Seine Frau und sein 23-jähriger Sohn haben ebenfalls in der Fleischfabrik gearbeitet - zu den gleichen Bedingungen. Ende März hat sein Chef die Familie rausgeworfen - aus saisonalen Gründen, wie in seiner Kündigung zu lesen ist. Doch das ist nicht der wahre Grund, vermutet Liviu. Seine Frau war acht Tage lang krank.
    "Meine Frau konnte nicht mehr, sie hat es nicht mehr geschafft zur Arbeit zu gehen, vor Erschöpfung. Sie ist um 4 Uhr losgefahren morgens, um 5 Uhr hat die Arbeit angefangen, um 22 Uhr ist sie nach Hause gekommen, und um 4 Uhr musste sie wieder aufstehen. Sie hat es nicht mehr geschafft."
    Liviu will im Schutz des Reporters nach Recklinghausen zu seinem ehemaligen Arbeitgeber fahren - 20 Kilometer über die verstopfte Ruhrgebietsautobahn 42. Wir halten vor einer grauen Halle im Industriegebiet, das Gebäude ist unscheinbar.
    Etwa 15 Leute arbeiten heute in der Halle - allesamt Rumänen und Bulgaren. Die Chefs sind Deutsch-Türken, erklärt Liviu. Meist würden sie nachts arbeiten. Nachts gebe es weniger Kontrollen. Noch vor wenigen Monaten hat die Firma unter dem gleichen Namen in einer anderen Stadt Tierfutter hergestellt. Jetzt steht sie mit Zerlegearbeiten von Weiß- und Rotfleisch im Handelsregister.
    "Das Hühnerfleisch, das wir hier verarbeitet haben, war in einem unvorstellbaren Zustand, das war verdorben, es hat gestunken. Meine Frau hat sich an dem Fleisch infiziert. Da vorne links, wo der LKW steht, wird die Ware gebracht, da dürfen die Arbeiter aber nicht hin. Wenn das Fleisch kommt, entfernen die Chefs sofort die Etiketten, sie verbrennen sie. Wenn sich die Tür da öffnet und die da raus kommen, fahr sofort los. Die dürfen mich hier nicht sehen."
    "Ich dachte, die bringen mich um"
    Liviu, 47 Jahre alt, sieht aus wie ein Mann, den eigentlich nichts so leicht umhauen kann. Kräftige Arme, kurz geschorene Haare, kleines Bäuchlein. Aber als er auf die Halle zeigt, zittern seine Hände. Er ist noch völlig eingeschüchtert von dem, was er vor ein paar Tagen hier erlebt hat.
    "Ich war noch mal hier, um mein Geld und das meiner Frau einzufordern. Ich habe dem Vorarbeiter gesagt: Warum gebt ihr mir mein Geld nicht? Dann hat er mich durch die Halle geschleift nach oben. Zu seinem Chef, um mich zu schlagen! Ein Freund von mir hat ihn festgehalten, ich bin dann weggelaufen. Ich dachte, die bringen mich um. Guck mal, da kommt der Wagen, der die Ware abholt. So, lass uns wegfahren, damit die uns nicht sehen. Da ist der Vorarbeiter. Wenn der mich jetzt sieht."
    Zidaru hat in seinem Büro in Gelsenkirchen inzwischen nachgerechnet, wie viel Geld Liviu und seine Frau noch von seinem Ex-Chef bekommen müssten. Dass es seit Anfang des Jahres den gesetzlichen Mindestlohn gibt, erleichtert die Arbeit. Bis zum 1. Januar waren Dumpinglöhne, wie sie Liviu bekommen hat, in vielen Branchen noch legal - nur "sittenwidrige Löhne" waren verboten. Ein Gummiparagraf. Jetzt hat Zidaru eine klare Bezugsgröße. 8,50 Euro.
    "Mehr als 1.500 Euro brutto fehlen." - Reporter: "Ist diese Firma ein krasser Einzelfall?" - "Vor allem bei kleineren Schlachtereien ist es Gang und Gäbe, dass die Leute auf diese schlimme Art und Weise ausgebeutet werden. Die werden auch bevorzugt eingestellt, weil die die Gesetze nicht kennen und nicht wissen, was ihnen zusteht."
    Liviu lebt seit seiner Entlassung von Hartz IV, er hat einen Ein-Euro-Job bei einer Reinigungsfirma, hofft, dort übernommen zu werden - als regulärer Mitarbeiter. Er ist nicht nur wegen des ausstehenden Lohns hier. Er will, dass die Firma, die ihn ausgebeutet hat, dichtgemacht wird.

    "Ich will, dass diese Sache aufhört, dass andere nicht erleben müssen, was ich dort in der Firma erlebt habe. Das ist eine Mafia, das ist unbeschreiblich. Die müssen bestraft werden für das, was sie da treiben."