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Seife aus Paris

Sie heißen "Begegnung", "Schritte auf der Treppe", "Der Unbekannte", "Klassenarbeit: Diktat" oder "Montagmorgen im Café du Commerce" die knappen Geschichten der Annie Saumont. Das klingt alles sehr harmlos, wer ahnt denn schon, dass sich hinter einem 10 Seiten langen Text mit dem Titel "Zwei Minuten Aufenthalt" die Geschichte einer auseinanderbrechenden Familie verbirgt, erzählt aus der Perspektive eines schwachsinnigen Kindes? Oder die Titelerzählung "Seife aus Paris". Auf 12 Seiten erleben wir drei Kriegsschicksale, die Irrungen und Wirrungen der Resistance und der Liebe.

Liane Dirks |
    "Höchstmögliche Verknappung" strebe sie an, erläuterte sie in einem Gespräch, "Nüchternheit", "kein überflüssiges Wort", "ausstreichen, ausstreichen, ausstreichen", es ist klar, warum Annie Saumont keine Romane schreibt. Dennoch wirkt fast jede dieser kleinen Geschichten als wäre sie ein Roman. Saumonts Zugriff auf ihre Figuren ist unmittelbar. Wie ein Chirurg geht sie direkt an ihr Herz. Sätze wie Schnitte. Sie reißen die Figuren auf. Keine Frage, die Autorin ist geschult am Nouveau Roman, aber ebenso am schwarzen Humor der Patricia Highsmith.

    Da darf die junge Jüdin Sarah, von den Bauern, die sie verstecken, Henriette genannt, sich als leidenschaftliche Gänsemästerin und Schlächterin erweisen, und der Held der Erzählung darf sie hassen dafür; der ein paar Seiten später erfolgende Verrat steht um so wirklicher und schicksalhafter da. Und jede Faser ihrer heruntergekommenen Existenz glaubt man der versoffenen Schlampe mit dem taubstummen Kind, die einen Polizisten in ein Kellerloch lockt, damit dieser dort verrecke. Und in das "Mädchen an der Bushaltestelle in ein Buch vertieft", so der Titel der letzten Novelle – erleben wir auf nur vier Seiten, wie sie Fiktion und Realität verwechselt. Das Mädchen ist die Autorin selbst, es ist der Leser, es ist wie wir. Ja, diese Autorin narrt uns auch, sie spielt mit dem Feuer, gekonnt und geschickt. Wer diese Geschichten liest, verbrennt sich. " Es müssen weiße Stellen bleiben", hat Saumont über ihr Schreiben gesagt, sie bleiben wie die dünne Haut von Narben, die sich unvermutet bemerkbar machen, die immer bleiben.