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Seilbahn in Tatev
Elf Minuten Nervenkitzel

"Land der Steine", so nennen Armenier ihre Heimat selbst. Felsen, Berge und Schluchten bestimmen die Landschaft des kleinen Staats. In Tatev schwingt sich die weltweit längste Seilbahn ihrer Art über eine malerische Schlucht. Trotz aller Schönheit kann es einem in der Kabine aber auch mulmig werden.

Von Tigran Petrosyan und Christian Siepmann | 28.02.2016
    Ein Blick aus der Seilbahn in Tatev in Armenien.
    Auf einen imposanten Ausblick können sich die Fahrgäste in der Seilbahn in Tatev einstellen. (Christian Siepmann)
    Und Abfahrt. Oder besser: Abflug. Die Türen schließen. Die Seilrollen rucken an. Und behutsam gleitet die Glaskabine aus ihrer Ruheposition. 5,7 Kilometer hat sie jetzt vor sich bis zum Kloster Tatev. Es ist die weltweit längste Strecke, die eine Pendel-Seilbahn ohne Halt zurücklegt.
    Verantwortlich dafür, dass alle immer sicher ans Ziel kommen, ist Hratschja Nersisjan. Er kommt aus der Nachbarstadt Goris und ist der technische Leiter der Seilbahn –und sehr stolz auf sie.
    "Früher konnte ich nicht einmal davon träumen, dass hier eine Seilbahn fahren würde. Deswegen bin ich natürlich stolz darauf, dass unsere Region heute die längste Seilbahn der Welt hat und ich mit meinem Team die Verantwortung dafür trage, dass die Technik gut funktioniert. Das ist eine Ehre für mich."
    Seit 2010 schwingen sich die zwei Kabinen über die malerische Schlucht des Flusses Vorotan im Süden Armeniens. Diese karge Gegend ist so schön, wie sie arm ist. Die Seilbahn soll endlich ein paar Touristen anlocken.
    Gondelbahn soll Tourismus ankurbeln
    "Wiedergeburt Tatevs" heißt das Projekt. Finanziert wird es auch von einer Stiftung reicher Geschäftsleute. Zu seinem 1.111. Gründungsjubiläum im nächsten Jahr soll das Kloster in altem Glanz erstrahlen. Und durch den Tourismus sollen Arbeitsplätze in der ganzen Gegend entstehen. Rund 100.000 Besucher kommen nun jedes Jahr. Vor dem Bau der Seilbahn waren es nur wenige Tausend.
    Von sehr weit her ist Lester Ibanez angereist. Er stammt von den Philippinen, aber er arbeitet in Dubai. Über Tatev hat er im Internet gelesen. Noch spannender als die Seilbahn findet er etwas anderes:
    "Das ist unsere allererste Erfahrung mit Winter und Schnee. Wir kommen aus einem tropischen Land, auf den Philippinen fällt kein Schnee. Und in Dubai ist nur Wüste. So eine Kälte erlebe ich zum ersten Mal."
    Kaum ist Lester Ibanez mit einer kleinen Reisegruppe in der Kabine, geht es auch schon los. Die Kabine schwebt ab. "Wings of Tatev", "Flügel von Tatev" also, haben die Betreiber sie getauft.
    "Welcome on board the Wings of Tatev. Recorded in the Guinness Book of Records as the longest reversible tramway in the world.”
    Kräftiges Ruckeln inklusive
    Gut elf Minuten dauert die Fahrt. Über das Dorf Halidzor hinweg, über verschlungene Wege und zuletzt über den Fluss Vorotan. 320 Meter über dem Boden zuckelt die Bahn an ihrer höchsten Stelle. Zwischen den Stationen halten nur drei Masten ihr Seil. Passiert die Kabine einen Mast, ruckelt es kräftig. Lester Ibanez gefällt das. Und er ist ein Freund von groben Scherzen.
    "Ich genieße es sehr. Es macht mich nur ein bisschen schwindelig. Besonders wenn es sehr schnell ohne Übergang nach unten geht. Die Bahn ist sehr schnell im Vergleich zu anderen. Ich starre einfach dort nach unten, nur für den Fall, dass wir abstürzen. Dann würde ich wenigstens in einer der längsten Seilbahnen überhaupt sterben. Das wäre ein Privileg.”
    Heute geht die Fahrt gut, wie bislang noch jedes Mal. Die Sicherheit der Bahn wird penibel kontrolliert .Das Ziel ist erreicht. Hoch über der Schlucht thront das Kloster Tatev auf dem Fels. Die Kabinentüren öffnen sich.
    Zum Kloster sind es dann nur noch ein paar Schritte durch den harschen Schnee.
    Gegründet im neunten Jahrhundert, ist Tatev heute einerseits ein hervorragendes Architekturdenkmal: Drei Kirchengebäuden aus dem zehnten bis dreizehnten Jahrhundert. Umschlossen von einer mächtigen Wehrmauer.
    Andererseits ist Tatev aber auch wieder zu einem wichtigen geistlichen Zentrum der armenisch-apostolischen Kirche geworden. Schon im Mittelalter gab es hier eine berühmte Universität.
    Kloster freut sich über Seilbahn
    In Armenien sind die Menschen stolz darauf, dass ihr kleines Land als erstes auf der Welt das Christentum als Staatsreligion einführte. Das war im Jahr 314. Nach Tatev kommen deshalb heute nicht nur Touristen. Auch Gläubige aus ganz Armenien und der Diaspora zieht es hierhin. Sie suchen Einkehr und Besinnung. Manche bleiben gleich für ein paar Tage.
    Der Diakon Harutjun aber lebt die ganze Zeit im Kloster. Die Geistlichen freuen sich, dass durch die Seilbahn mehr Reisende zu ihnen kommen. Den Klosterbetrieb haben sie extra so eingerichtet, dass Touristen und Gläubige sich nicht in den Weg geraten.
    "Durch die Seilbahn kommen nun viele Besucher zu uns, in eines der ältesten Klöster der Welt. Bei uns befinden sich auch Reliquien von den Aposteln Petrus und Paulus. Aber die Touristen stören die Gläubigen nicht. Wir haben es so eingerichtet, dass wir die Gottesdienste morgens früh um sechs und abends um 19 Uhr abhalten."
    Denn die längste Pendel-Seilbahn der Welt – sie fährt im Winter nur zwischen 10 und 18 Uhr.