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Selbstentthronung

Die UdSSR sei letztendlich doch reformierbar gewesen, erklärt Michail Gorbatschow in der nun erschienen Autobiografie. Ausgerechnet Gorbatschow, der vielen seiner Landsleute als Totengräber des Sowjetreichs gilt. Mit Inbrunst stimmt er ein Loblied Lenins an, ignoriert dafür aber ganze Abschnitte der Zeitgeschichte.

Von Robert Baag | 27.05.2013
    Eine höchst aufschlussreiche Quintessenz Gorbatschow'schen politischen Denkens, abgeleitet aus der ihm wohl eigenen Art Geschichte und Gegenwart zu analysieren, findet sich beispielhaft gegen Ende seiner kürzlich veröffentlichten, voluminösen Autobiografie:

    "Obwohl viele meiner Opponenten der Meinung waren und sind, weder die KPdSU noch die UdSSR sei zu reformieren gewesen, bin ich nach wie vor anderer Meinung."

    Derlei sollte, neudeutsch umschrieben, "erst einmal sacken". Ein erstaunlicher Standpunkt, immerhin reichliche 20 Jahre nach der von Gorbatschow selbst entscheidend ausgelösten Implosion der Sowjetunion. Nun aber auch noch diese Passage, Schluckaufreflexe stellen sich ein:

    "Es gibt jetzt viele scharfe Verurteilungen Lenins. Ich bin damit absolut nicht einverstanden. Ich schätze an Lenin, dass er den Kommunismus mit dem intellektuellen Fortschritt, mit der Aneignung des ganzen, von der Menschheit erworbenen Wissensschatzes verbindet. Trotz aller kritischen Einwände war er ein großer Mann."

    Ganze Hundertschaften von Fachhistorikern, Politologen, Soziologen – alle haben sich dann wohl geirrt? Die in Lenin und dessen Machtausübung nach dem Petrograder Oktoberumsturz von 1917 den objektiven Wegbereiter des nachfolgenden Stalin'schen Terror-Regimes sehen? Der notorische Schreibtischtäter Lenin - laut Gorbatschow also ein "großer Mann"? Solch verblüffend unreflektiert erscheinende Passagen in Gorbatschows "Mein Leben" liefern indes - wenn auch von ihm wohl unbeabsichtigt – weiterführende Einsichten: Sie geleiten ihn als geistigen Vater von "Glasnost" und "Perestrojka" – von "Offenheit" also und von "Transparenz" in der späten UdSSR – hinab von jenem hohen Allzeit-Podest, auf dem sich das letzte sowjetische Staatsoberhaupt in der Wahrnehmung wenigstens vieler Deutscher immer noch befindet.

    Sicher: Die Dankbarkeit für seine positive Rolle, als sich die beiden deutschen Staaten 1989/'90 friedlich vereinigen durften, wird ihm hierzulande auf immer gewiss sein. Und das zu Recht. Aber wahr ist auch: In die Geschichte seines Landes wird er nicht als großer Stratege eingehen. Und auch sein Gespür für taktisches Vorausdenken wirkt in der Bilanz eher begrenzt. Dies in seinem jüngsten Buch zumindest indirekt selbst noch einmal einzugestehen, wirkt zweifellos sympathisch – nur: Neu ist diese Erkenntnis nicht. Hör- und sichtbar enttäuscht über sein persönliches wie politisches Scheitern hat Gorbatschow dies bereits am 25. Dezember 1991 anklingen lassen, als er im sowjetischen Fernsehen seinen Rücktritt vom Präsidentenamt der UdSSR erklärte:

    "Das alte System ist zusammengebrochen, bevor das neue System im Stande war zu funktionieren. Grundlegende Veränderungen in solch einem riesengroßen Land, noch dazu mit solch einem Erbe, können nicht schmerzlos vor sich gehen, ohne Mühen, ohne Erschütterungen."

    Weit über 500 Seiten also, sie wollen bewältigt werden: Ein engagierteres Lektorat mit einem geschärften Blick für Redundanzen und für sicherlich von der Übersetzerin zu vertretenden gelegentlichen Stilblüten und Sprachschwächen hätte diesem Memoiren-Band ganz bestimmt gut getan:

    "Wir flanierten über den Kreschatik-Boulevard (in Kiew), gingen auf den Wladimir-Hügel, weideten uns am Dnjepr und besuchten das Haus, in dem die Universität (meine Frau) Raissa einquartiert hatte. ( ... ) Ich musste Raissa sagen, dass (unsere Tochter) Irina die Windpocken gehabt hatte und jetzt wieder gesund war. Meine Frau war zuerst beleidigt, aber ich überzeugte sie davon, dass ich recht hatte, indem ich sie fest umarmte. Das war mein Hauptargument, und auf Frauen wirkt das stärker als alle Argumente."

    "Sapperlot, Michail Sergejewitsch", bricht der Reflex sich aufstöhnend Bahn: "Das also war Ihr Geheimtipp schon anno 1961 ... ?!" Doch im Ernst: Einige der vorab als posthume Liebeserklärung an seine 1999 verstorbene Frau Raissa beworbenen Buchpassagen schaffen leider nicht immer, das Gleichgewicht zu halten auf jenem schmalen Grat zwischen einfühlsamer Schilderung und betulichem Kitsch. Durchaus spannend zu lesen dagegen: Episoden aus der Kindheit des Bauernjungen Gorbatschow im Südrussland der 30er-Jahre, vor allem aber seine Skizzen zum Leben von Menschen, die – abhängig von der Höhe ihrer Position in der Parteihierarchie – in einem spezifischen abgeschotteten Mini-Kosmos gelebt haben müssen. Dort galten demnach eigene Regeln, auch eine Art "Hackordnung". Argwöhnisch habe man etwa registriert, schreibt Gorbatschow, wer sich dort mit wem länger unterhielt, sich öfters traf oder gar gegenseitig einlud, dabei womöglich Absprachen traf, die sich eventuell gegen jemanden Dritten hätten richten können. Solch fast paranoid anmutendes Benehmen sei übrigens nicht nur kennzeichnend gewesen für die Männer im wichtigsten Machtzirkel der KPdSU, im Politbüro:

    "Raissa hatte mit dem neuen System von Beziehungen Probleme. Sie kam mit dem neuen Leben der "Kreml-Frauen" nicht klar. Enge Beziehungen gab es nicht. Die Welt der Ehefrauen war das Spiegelbild der Hierarchie der leitenden Männer, wobei einige weibliche Nuancen hinzukamen. Nach mehreren Treffen der Frauen war Raissa entsetzt über die Atmosphäre: eine Mischung aus Arroganz, Taktlosigkeit und Speichelleckerei."

    Schade, dass Gorbatschow ganze Abschnitte der Zeitgeschichte und seine damit verbundenen Reflexionen als teilnehmender Zeuge damals wie heute unerwähnt lässt. Dazu gehören etwa die Ereignisse rund um den 17. Juni 1953 in der damaligen DDR. Und: Mehr als enttäuschend, wie knapp und nachgerade substanzfrei er sogar noch heute seinen Sprung in die wichtigste Schlüsselposition beschreibt, ins Amt des KPdSU-Generalsekretärs am 11.März 1985. Schmalkost:

    "Auch mein Name wurde immer häufiger unter den Anwärtern genannt. Aber ich dachte bis zum letzten Moment: Das wird sich schon zeigen. Immerhin hatte ich diese Möglichkeit aber schon in Erwägung gezogen. Ich war ja die meiste Zeit mit der Leitung der Angelegenheiten des Politbüros und des Sekretariats beschäftigt gewesen und hatte einzigartige Erfahrungen gesammelt."

    Doch genau dazu hätte man gerne noch mehr erfahren. Kurz: detailliertere "Berichte aus der Werkstatt" - sie fehlen. Der vorliegende Band ergänzt Gorbatschows schon seit 1991 portionsweise publizierte Memoirenliteratur lediglich um einige Episoden und Schilderungen aus seinem Privatleben. Wer also die Gorbatschow-Abteilung seiner Bibliothek komplettieren möchte, mag bei dieser Neuerscheinung zugreifen. Doch wer weiß: Vielleicht spitzt Michail Sergejewitsch ja schon die Feder für seine dann ultimative Biografie, die für seine Freunde, Gegner und Feinde endlich die letzten Lücken füllen könnte?

    Michail Gorbatschow/Birgit Veit: "Alles zu seiner Zeit. Mein Leben."
    Aus dem Russischen von Birgit Veit
    Verlag Hoffmann und Campe,
    550 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-455-50276-3