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Selektion der alten Menschen

Die Dokumentation präsentiert sich auf den ersten Blick als Käfig voller Narren. Allzu absurd muten viele biopolitische Utopien an, die sich im ideologischen Vakuum nach dem Scheitern von Lenins Revolutions- und Staatsidee entfalten konnten. Der Leser fragt sich, weshalb er seine begrenzte Lebenszeit mit der Lektüre von Unsterblichkeitsvisionen gescheiterter Avantgardisten verschwenden soll. Doch Boris Groys formuliert gegen diesen ersten Eindruck seine These, sie hätten die Sowjetideologie stärker beeinflusst als der westliche Marxismus. Genuin russische, christlich-orthodoxe Heilserwartungen seien in naive Technikgläubigkeit transformiert worden. In diesem Sinne könnte man auch Lenins Revolutionsrezeptologie "Was tun?" deuten oder seine spätere Formel, dass Sozialismus gleich Elektrizifizierung plus Sowjetmacht sei.

Von Elke Suhr |
    Nikolaj Fedorov, Jahrgang 1829, war gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon weiter gegangen und hatte prophezeit, dass die Synthese von sozialem und wissenschaftlichem Fortschritt nicht nur ins Paradies auf Erden, sondern gleich zum ewigen Leben führen werde. Der Mensch sei auf technischem Weg reproduzierbar, wenn er die veraltete bürgerlich-individualistische Gesellschaftsordnung überwunden habe. Diese "materialistische" Auferstehungsvision gewann an Aktualität für eine politische Propaganda, die ältere Menschen im Namen künftiger Generationen über ihre triste Gegenwart hinweg trösten musste. Der 1895 geborene Valerian Nikolaevic Murav’ev, der wissenschaftliche Sekretär des Moskauer "Zentralinstituts für Arbeit", nahm Fedorovs Vision im Todesjahr Lenins wieder auf. Er vertrat die These, jeder Mensch sei klonbar. Selbst eine Handschrift werde dereinst als genetischer Ausgangspunkt einer Wiedererweckung genügen. Er und andere Utopisten wollten den Kopiervorgang allerdings vornehmlich auf große Geister beschränkt wissen. Der 1857 geborene Konstantin Ciolkovskij war da schon großzügiger. Er widmete sich der Erforschung des Weltalls mit dem Ziel, Lebensraum für künftige Auferstandene zu schaffen. Lenin gewährte dem Mathematiklehrer eine lebenslange Rente, die es ihm ermöglichte, sich seiner wahren Passion zu widmen. Er baute den ersten Windkanal der Welt und erprobte den Rückstoßantrieb als Möglichkeit des Vordringens ins All. Die stalinistische Propaganda stilisierte ihn zur Symbolfigur der künftigen Herrschaft der Menschheit über Raum und Zeit.

    Der Philosoph und "Gotteserbauer" Alesxandr Bogdanov war über fünfzig, als er eine moderne Methode des Vampyrismus erfand: Die Selbstverjüngung durch Bluttransfusion. Er versprach sich eine "Erweiterung der Vitalität" mittels der Kreuzung individuellen Lebenssafts. Im Todesjahr Lenins verfasste der Herausgeber der ersten russischen Karl-Marx-Ausgabe eine Theorie des "Physiologischen Kollektivismus" als "übermenschliche" Form der Unsterblichkeit.

    1926 gründete er das weltweit erste "Institut für Bluttransfusionen" in Moskau. Elfmal tauschte er innerhalb von zwei Jahren sein Blut gegen das eines anderen, zumeist jüngeren Menschen. 1928, beim zwölften Selbstexperiment, starb er an einem Schock.

    Sein Institut war indes das Vorbild von Transfusionszentren, die bald in allen Sowjetrepubliken entstanden und die von ihm entwickelte zirkuläre Technik übernahmen. Eine historisch bedeutsame Rolle hatte Bogdanov auch als Regisseur der "Proletkult"-Bewegung gespielt. Sie hatte die Selbstvergötterung der Industriearbeiterschaft als neue Herrenklasse so perfekt inszeniert, dass große Teile des städtischen Proletariats trotz Hunger und Terror für die bolschewistische Diktatur kämpften. Die psychologischen Grundlagen dieser systematischen Massensuggestion waren in den von ihm, Anatolij Lunatscharskij und Maxim Gorki gegründeten "Parteischulen" für proletarische "Propagandisten" auf Capri entwickelt worden. Lenin hatte diese "Sonderbündelei" erbittert bekämpft, Lunatscharskij dann aber zum Kommissar für Volksbildung gemacht. Seine Schlüsselrolle bei der Transformation biopolitischer Utopien in eine volksnahe, parareligiöse Propaganda geht in dem vorliegenden Band leider unter. Die entfaltete ihre volle Kraft in dem maßgeblich von Lunatscharskij inszenierten Totenkult um Lenin, dessen kunstvoll konservierte Leiche die Wunder der Technik gleichsam verdinglichte. Sie schien nur darauf zu warten, dass ein genialer Forscher sie dereinst zu neuem Leben erwecke.
    Als Lunatscharkij 1928 als Volkskommissar entlassen wurde, hinterließ er Stalin den modernsten Propagandaapparat seiner Zeit und ein städtisches Massenproletariat, dem der Technik- und Personenkult in Fleisch und Blut übergegangen war.

    Dazu hatte auch der 1889 geborene Aron Zalkind beigetragen, einer der führenden Pädagogen der frühen Sowjetära. 1928 trat er mit seinem "sozialpsychologischen Essay" über die "Psychologie der Menschen der Zukunft" an die Öffentlichkeit. Der einstige Freudianer hatte sich Lenins Ressentiments gegen die Psychoanalyse und die "Hypertrophie der Sexualität" zu eigen gemacht und eine "Pädologie" verfasst, die auf der Pavlovschen Reflexlehre fußte. Im Sinne Lenins propagierte er die "revolutionäre Sublimierung" und eine gesellschaftliche Kontrolle der Zeugung "neuer Menschen". Vom Moment ihrer Geburt an sollten sie im Sinne des Kollektivs konditioniert werden. Als Stalin die "Pädologie" Mitte der dreißiger Jahre verbot, erlag ihr Schöpfer einem Herzinfarkt.

    Der bereits erwähnte Valerian Nikolaevic Murav’ev hatte auf Grundlage der Pavlovschen Relexologie eine Biomechanik der Arbeit entwickelt, die in Zweigstellen seines Instituts überall in der Sowjetunion erprobt wurde und auf die massenhafte Konditionierung perfekter Proletarier zielte. Sie sollte in der Idee des "sozialistischen Wettbewerbs" und der Stachanov-Bewegung aufgehen, einer wichtigen Triebkraft der Stalinschen Fünfjahresplanpolitik.

    Die realpolitische Relevanz der russischen Daniel Düsentriebs wird gemeinhin unterschätzt, sie verschwinden meistens in Fußnoten und Randbemerkungen. Boris Groys' und Michael Hagemeisters Dokumentation zeigt, wie die Bolschewisten sogar aus pseudowissenschaftlichen Heilsrezepten propagandistisches Kapital schlagen konnten.

    Eine Rezension von Elke Suhr. Auch der Band "Die neue Menschheit – Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts" ist in der Reihe "suhrkamp taschenbuch wissenschaft" erschienen. Er wird von Boris Groys und Michael Hagemeister herausgegeben, hat 640 Seiten und kostet 20 Euro.