
Vier Jahre dauert es im Durchschnitt, bis ein Patient mit einer seltenen Erkrankung die richtige Diagnose erhält – bis das Leiden endlich einen Namen hat. Egal, ob die Zeit der Unwissenheit Wochen, Jahre oder Jahrzehnte lang ist – sie ist stets auch psychisch sehr belastend für die Patienten, weiß Prof. Johannes Kruse, Leiter der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der Uniklinik in Gießen und Marburg.
"In dieser Phase der Unsicherheit gibt es zwei Probleme: Auf der einen Seite fangen viele an zu zweifeln: Na, ist es nicht doch was Psychosomatisches? Also es droht auch eine psychosomatische Fehldiagnose. Und auf der anderen Seite bedeutet diese Unsicherheit sehr viel Ängste auszuhalten: Na, ist es etwas Gefährliches?"
Die Belastungen sind vielfältig
Auch wie sich Familie, Freunde, Arbeitgeber und Ärzte verhalten, beeinflusst stark die psychische Gesundheit von Patienten mit einer seltenen Erkrankung:
"Viele Menschen fühlen sich nicht ausreichend verstanden, die fühlen sich dann in die Ecke eines Simulanten gestellt und gleichzeitig spüren sie: Sie haben eine körperliche Erkrankung. Und in diesem Dilemma ziehen sich häufig Menschen zurück und fühlen sich von ihrer Umwelt nicht ausreichend getragen."
Acht von zehn Menschen mit einer seltenen Erkrankung leiden unter Angst- oder Stresssymptomen, etwa ein Drittel gab in einer Umfrage an, schon einmal suizidale Gedanken gehabt zu haben und auch das Risiko für eine Depression ist deutlich erhöht, sagt Johannes Kruse:
"Es gibt amerikanische Studien, die nahelegen das 70 Prozent der Patienten mit einer diagnostizierten seltenen Erkrankung gleichzeitig auch eine Depression haben. Der Anteil ist relativ hoch. Von daher ist es wichtig genau dort hinzugucken."
Die Psyche benötigt oft auch nach der Diagnose Hilfe
Genau hingucken, wie es dem Patienten psychisch geht – das ist die Aufgabe von Psychosomatikern und Psychotherapeuten. Sie können den Patienten unterstützen – nicht nur in der Lebensphase, bevor die Krankheit endlich einen Namen bekommen hat.
"Wenn die Diagnose gestellt worden ist, kann es sein, dass jemand im Verlauf auch eine Depression entwickelt hat und dann geht es darum, sowohl den körperlichen Aspekt wie den psychischen Aspekt sich anzuschauen und zu behandeln."
Doch die Erfahrung zeigt: Wenn Ärzte, die spezialisiert sind darauf, seltene Erkrankungen zu erkennen und zu behandeln, ihren Patienten empfehlen, sich an einen Psychologen oder Psychosomatiker zu wenden, dann folgen nur sehr wenige Patienten diesem Rat. Zu tief sitzen die Verletzungen, wenn man jahrelang als Simulant behandelt wurde oder wenn die körperlichen Beschwerden durch den Satz: "Das ist doch alles nur psychisch bei Dir" abgetan wurden. Prof Martina de Zwaan, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie an der medizinischen Hochschule Hannover kennt diese Vorbehalte der Patienten:
"Weil sie einfach nicht in diese Ecke geschoben werden wollen. Weil sie Ängste und Vorbehalte haben, dass sie dann gar niemand mehr ernst nimmt, wenn sie jetzt auch schon zum Psychosomatiker und Psychologen gehen."
Eine Zusammenarbeit von Anfang an könnte helfen
Eine Idee, um dieses Problem zu lösen: Von Anfang an, wenn der Patient in einem Zentrum für seltene Krankheiten Hilfe sucht, sollte er auch Kontakt mit einem Experten für die Psyche haben. Damit es im Weiteren ganz normal ist für den Patienten, dass sich auch um seine psychischen Belastungen ein Arzt kümmert. Und auch, um zu erkennen, welchen Anteil an den körperlichen Beschwerden die Psyche hat. Ob das funktioniert, wird derzeit in einem Projekt untersucht. Martina de Zwaan:
"Das ist ein Projekt, das prüfen möchte, ob das Beiziehen eines Psychosomatikers die diagnostische Sicherheit und die Lebensqualität vom Patienten mit Verdacht auf eine seltene Erkrankung erhöhen."
Schon jetzt scheint es sinnvoll zu sein, Psychologen und Psychosomatik-Spezialisten mit einzubeziehen in die Behandlung von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Die Ergebnisse des Projekts könnten diese Idee unterstützen.