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Sex als Flucht vor sich selbst

Kurz nachdem Michel Houllebecqs Roman "Plattform" erschienen war, galt der Autor schon fast als Prophet. Denn der Schlusspunkt in seinem Buch war ein islamistischer Terroranschlag - und das kurze Zeit vor dem 11. September. Skandalregisseur Calixto Bieito hat den Roman jetzt beim International Festival von Edinburgh inszeniert - mit Pornofilmen und Sexkabinen als tiefschwarze Satire.

Von Susanne Lettenbauer |
    Bei Bieito-Inszenierungen könnte man Wetten abschließen, wann die ersten gehen. Bei den ersten richtig harten Ausdrücken, nach der zehnten Pornoszene oder doch erst wenn das Masturbieren losgeht? In Edinburghs Lyceum Theatre gingen gestern die Ersten nach zehn Minuten. Dass sie einen guten Abend verpassen würden, konnten sie da noch nicht ahnen. Vielleicht war es ihre erste Bieito-Erfahrung.

    Denn obwohl auf der grellbunten Bühne unübersehbare Pornofilme in billigen Sexkabinen das Publikum sichtlich beunruhigten, man lieber auf den großen Bildschirmen der spanisch-englischen Übersetzung folgte und die ersten zehn Minuten einer ermüdenden Buchlesung ähnelten, war das nur das Beiwerk zu einer beeindruckenden Inszenierung von Sex als Flucht vor sich selbst. In deren Mittelpunkt - die abgrundtiefe Einsamkeit eines kleinen französischen Beamten namens Michel, der in Thailand die Bordelle abklappert, auf der Suche nach dem ultimativen Kick.

    Vor fast genau fünf Jahren erschien Houellebecqs Roman Plattform, kurz vor dem 11. September. Den einen galt er damals als zu trivial, pornografisch und effektheischend, andere lobten ihn als visionär, weil er als Schluss- und Höhepunkt seines Romans einen islamistischen Terroranschlag wählte. Calixto Bieito, gern als Skandalregisseur betitelt, findet in Edinburgh einen Mittelweg, der das Publikum zum Schluss sogar die Buhrufe vergessen lässt, die sonst obligatorisch sind.

    Bieito geht es bei Houllebecq um die Poesie dieses extrovertierten Werkes. Weniger um die verschiedenen Formen des Beischlafes oder um die kulminative Beschreibung des damals bei Erscheinen des Romans als visionär bezeichneten brutalen Terroranschlages. Mit Romantik hat diese Liebesgeschichte wenig zu tun: Da treffen sich der weltfremde Michel und die Touristikmanagern Valerie in Thailand, er erzählt ihr begeistert von seinen Bordellbesuchen. Erst nach der Rückkehr nach Paris lässt er sich mit ihr auf eine engere Beziehung ein, die sexuell gern einmal mit einer dritten Person aufgepeppt wird.

    Unter süsslich-falschen Popklängen kreiert Bieito aus dem stellenweise ermüdenden Houellebecq-Roman eine tiefschwarze Satire. Den Protagonisten Michel teilt der Regisseur in vier Charaktere auf, vier Männer, die sich gegenseitig übertrumpfen in ihren Frauengeschichten. Der emeritierte Mathematikprofessor, der ständig über Sex als Wirtschaftsfaktor schwadroniert, der Elektroinstallateur aus der Pariser Banlieue auf der Suche nach dem Paradies der Reiseveranstalter, ein experimentierfreudiger Single auf Jahresurlaub und eben Michel, der Beamte ohne Sinn für Kultur aus Frankreichs Kulturministerium.

    Karrikaturen allesamt, denen der Westen zu steril geworden ist: im Sex, im Job, im Alltag. "Liebe", das ist das Stichwort auf das Regisseur Bieito den Text von Michel Houllebeq eindampft. Liebe als der eigentliche Sinn der menschlichen Existenz. Wenn es sein muss, erkämpft durch großspurige Prahlereien von testosteronprallen Machogestalten, die am Ende, wenn die Luft raus ist, das blanke Grausen überkommt angesichts der eigenen Person. Die den Sextourismus in Asien als willkommene Abwechslung zu einem faden Beamtendasein missverstehen. Das ist kein Problem zwischen Europa und Asien, sagt Bieito gelassen, sondern eines des Geldes.

    Grellbunt-kalte Ledersofas, eine kleine Bar, dahinter die offenen Kabinen mit abwaschbaren Klappsitzen und flimmernden Bildschirmen. Im Hintergrund steht ein leopardengestreiftes Klavier für leise Musik von Györgi Ligeti, eine kleine Hommage Bieitos an den im Juni verstorbenen Komponisten.

    Doch Thailand erweist sich nur als Projektionsfläche des Westen, auf der von einem smarten Hotelmanager wie Jean-Yves Sexclubs on the Beach für alle Geschmäcker geplant werden können. Bis al-Qaida auftaucht. Wären in der Mitte der Drehbühne nicht die altbekannten Plastikkabinen mit Bildschirmen voller Pornofilmchen, die unverzichtbare Gummipuppe als Liebesersatz oder die laszive Nackttänzerin, dann hätte der Abend noch gewinnen können. Vielleicht sollte Calixto Bieito dem Publikum mehr vertrauen und ihm Freiraum für mehr Phantasie lassen. Die kann brutaler sein als jedes Pornofilmchen.