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Sexuelle Gewalt an Internaten kaum Forschungsthema

Die Missbrauchsfälle in Internaten wie der Odenwaldschule haben nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch Experten der Erziehungswissenschaften überrascht. Denn bisher gehörten Gewalt, Missbrauch und Lehrer-Schüler-Beziehungen eher nicht zu den Themenfeldern der empirischen Schulforschung.

Von Doris Arp |
    Die Antworten auf diese Fragen bleiben nur dann nicht bloße Meinungen oder leere Behauptungen, wenn die pädagogische Theorie das Kreisen in sich selbst aufgibt, ihre Aussagen an den Früchten der Praxis kontrolliert, die in ihrem Namen geschieht. Nur so bleibt sie kritisch und wach und vor Dogmatisierung bewahrt.

    Das Zitat des Erziehungswissenschaftlers Heinrich Roth trifft einen Kern der gegenwärtigen Debatte. Dabei ist es schon über 45 Jahre alt. Roth hat Anfang der 60er-Jahre die sogenannte empirische oder realistische Wende in der Pädagogik mit eingeleitet. Nicht nur die Theorie, sondern die aus Konzepten erwachsene Praxis sollte kritisch überprüft werden. Viel empirische Schulforschung ist seither erfolgt. Doch das Thema Gewalt, Missbrauch und Lehrer-Schüler-Beziehungen gehören eher nicht dazu, meint der Erziehungshistoriker Hans Malmede, von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

    "Es gibt schon lange die Debatte um Gewalt in sozialpädagogischen, sozialfürsorgerischen Erziehungsinstitutionen, also Gewalt, auch sexueller Missbrauch in der Heimerziehung. Was da in den letzten Jahren deutlich geworden ist, dass wir das nicht mehr nur auf bestimmte Zeiträume, Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich begrenzen können, sondern erkennen müssen, dass sich diese Gewaltgeschichte gegenüber Kindern und Jugendlichen noch bis in die 70er-, 80er-Jahre nachweisen lässt. Die spannende Frage, die sich daran anschließt, ist: Inwieweit Sozialpädagogik und Erziehungswissenschaft sich wirklich ernsthaft mit den Ereignissen hinter den Kulissen, der Selbstdarstellung von Erziehungsinstitutionen beschäftigt. Wieweit will sie wirklich wissen, was sich jenseits der Selbstdarstellung auf dem Papier, der Rhetorik überhaupt ereignet."

    Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen mitten im antiautoritären gesellschaftlichen Aufbruch der 60er-, 70er-Jahre. Bislang acht Lehrer der Odenwaldschule sind von mindestens 33 ehemaligen Schülern beschuldigt worden. Die Odenwaldschule gilt als reformpädagogischer Leuchtturm - als beste Praxis für selbstbestimmte und freiheitliche Erziehung und Bildung von jungen Menschen.

    Vor gut zehn Jahren wurden dort die ersten Missbrauchsvorwürfe bekannt. Doch sie blieben ohne größere öffentliche Beachtung, von der Schule verschwiegen und unter den Tisch gekehrt. Theorie und Praxis, Selbstdarstellung und Realität fallen nun angesichts neuer Vorwürfe unerwartet auseinander, meint Werner Thole, neuer Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

    "Das Überraschende ist jetzt, dass sich in einigen dieser Einrichtungen quasi im Rücken dieser Liberalisierung, dieser Öffnung, der Kritik auch des Autoritären, Praxen durchsetzen, sexuelle Übergriffe, Gewaltformen von Pädagogen gegenüber Kindern und Jugendlichen auf der Tagesordnung standen, die so dort gar nicht mehr vermutet wurden, weil sie quasi der Vergangenheit anzugehören schienen."

    Das Ausnutzen von Machtverhältnissen und Gewalt sind auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht verschwunden - warum sollten sie ausgerechnet in Schulen und pädagogischen Institutionen nicht weiterleben? Nur weil die Konzepte von Gleichheit, gegenseitiger Achtung und Anerkennung sprechen? Die Chance für Gewaltfreiheit ist dort möglicherweise größer, als an Schulen, die Unterordnung und Disziplin als Schulkultur preisen. Doch gewalttätige Übergriffe sind auch trotz liberaler Konzepte möglich - da unterscheiden sich Internate nicht von Familien, in denen ja bekanntlich die meiste Gewalt gegen Kinder ausgeübt wird. Aber in den reformpädagogischen Einrichtungen liegt womöglich eine besondere systemische Gefahr: Die meisten haben private Träger und sind damit der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen. Und sie werden oft von eindrucksvollen Persönlichkeiten geleitet, wie zum Beispiel Gerold Becker, dem stets ein charismatischer Ruf von Schülern und Kollegen vorauseilte. Und diese charismatischen Praktiker treten zugleich als Experten in eigener Sache im erziehungswissenschaftlichen Diskurs auf. Kritische Distanz ist da nicht zu erwarten, meint der Erziehungshistoriker Hans Malmede.

    "Wenn wir nicht in der Lage sind, auch als Erziehungswissenschaftler diese Kulissen der selbstgerechten Darstellung zu durchbrechen, besteht immer wieder die Gefahr, dass sich das wiederholt. Der eigentliche Ort des sexuellen Missbrauchs ist nach wie vor die Familie, nicht so sehr die Schule und Internatsschule. Aber gerade in Internatsschulen ist da ein viel stärkeres Augenmerk draufzulegen und vor allem eine Selbstkontrolle der Pädagogen einzufordern."

    Hier sieht auch Walter Thole von der Universität Kassel Versäumnisse der Erziehungswissenschaft.

    "Wo die Erziehungswissenschaft eine Verantwortung zu übernehmen hat, ist, dass sie möglicherweise nicht reflexiv und kritisch genug mit Konzepten umgegangen ist, dass wir unsere forscherische Aufmerksamkeit auf diesem Feld nicht ausreichend zugespitzt haben. Dazu beigetragen hat sicherlich auch, dass wir in den letzten 15 Jahren in der erziehungswissenschaftlichen Forschung zumindest im Mainstream die Aufmerksamkeit legten auf ganz andere Entwicklungen. Im Kontext der internationalen Vergleichsstudien ging es primär darum, zu eruieren in welcher Form, in welcher Stufe, welche Unterrichtspraxen dazu beitragen, ein möglichst hohes Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern zu erreichen."

    Das betätigt der Schulforscher Professor Heiner Ullrich von der Universität Mainz.

    "Zu Internaten gibt es die wenigsten Studien. Vielleicht auch deswegen, weil sie am aufwendigsten sind. Auch dort hat man sich mehr mit den Programmen beschäftigt, als mit der tatsächlichen Praxis. Man hat sich weniger damit befasst, wie dort das pädagogische Verhältnis gestaltet ist."

    Gerade die pädagogischen Beziehungen, das zeigten die Vorfälle, müssten aber künftig stärker in den Blick genommen werden, meint der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

    "Die reformpädagogischen Schulen, die lebten ja auch von dem Nimbus, dass es so etwas gibt wie eine Lehrerpersönlichkeit. Das Lehrersein, das pädagogisch Wirken, Erziehen zu können, schien in die Person selbst implementiert zu sein. Das ist ein naives Verständnis von pädagogischer Professionalität. Kritisch gesehen wurde das von denjenigen, die darauf achteten, dass pädagogische professionelle Arbeit eben nicht gleichzusetzen ist mit dem natürlichen, lebensweltlichen erzieherischen Umgang mit Kindern, mit Jugendlichen, sondern, dass es einer Qualifizierung bedarf, einer Ausbildung bedarf, sich am Handeln zu verifizieren hat und daran gebunden ist, dass ich eine Reflexivität auch besitze."

    Es ist gerade eine personale Pädagogik, die Betonung einer intensiven Beziehung zwischen Schülern und Lehrern, die alternative, reformpädagogische und auch konfessionelle Schulen für Eltern attraktiv macht. Durchaus zurecht, meint Heiner Ullrich, der zusammen mit einem Kollegen die Lehrer-Schüler-Beziehung an Waldorfschulen untersucht hat.

    "Man kann feststellen, dass solche langjährigen, intensiven personalen Pädagogiken vor allem für Kinder und Jugendliche wichtig sind, die Stabilität in den sozialen Beziehungen nicht mehr vorfinden. Für die übrigen Schüler ist es wichtig, dass die Lehrerperson auch fachlich gut qualifiziert ist. Es geht hier um die Spannung zwischen personaler Pädagogik und fachlichem Unterricht und man kann sich nicht nur für eine Seite entscheiden."

    Mehr als ein Fünftel aller Eltern würde ihr Kind lieber auf eine private Schule schicken. Die Tendenz ist steigend. Gleichzeitig wird an staatlichen Schulen der Ausbau der Ganztagsschulen vorangetrieben. Wenn aber Schulen mehr Erziehungsaufgaben übernehmen sollen, dann bekommt die Lehrer-Schüler-Beziehung eine noch größere Bedeutung.

    "Es wäre schade, wenn im Zuge der Missbrauchsdebatte solche Züge von reformpädagogischen Schulen einfach in den Hintergrund treten. Hier liegen auch Leistungen und hier liegen natürlich auch Risiken."

    Risiken, die in der Lehrerperson selbst liegen. Pädophilie ist keine Frage von pädagogischen Konzepten, sondern von sexuellen Vorlieben. Es ist bekannt, dass Pädophile häufig Berufe suchen, wo sie Kindern nahe sind. Deshalb sind geschlossene Schulsysteme wie Internate besonders gefährdet. Offene Strukturen hingegen schützen Schüler, sagt der Schulforscher Ullrich.

    "Ein Schlagwort ist Teams bilden, ein anderes ist Fremdevaluation, dann kommen Dinge zur Sprache durch Fragebögen und intensive Gespräche, die den Alltag bestimmen und über die man sich nicht immer von vornherein klar ist. Ich denke, das ist auch eine Form, die man wenig missbräuchlich nutzen kann, weil man hier immer im kollegialen Kontakt über Schüler spricht und sich gegenseitig über die Erfahrung mit den Schülern austauscht und auch gegenüber den Elternhäusern mit professioneller Kompetenz beraten kann."

    Offenheit und Selbstkritik hält auch der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Werner Thole, für die beste Prävention gegen Missbrauch.

    "Es geht darum, dass wir auch in den Schulen - das betrifft auch die pädagogischen Institutionen außerhalb der Schulen - Formen und Kulturen entwickeln, die eine Aufmerksamkeit ermöglichen, dass wir, wenn die Fälle 2011 passieren, 2011 auch direkt aufgeklärt werden."

    Die Erziehungswissenschaft müsse jetzt zeigen, welche Lehren sie jenseits der Aufklärung der konkreten Fälle für das eigene Fach ziehe, meint der Bildungshistoriker Hans Malmede.

    "Ob es ernst genommen wird und gesagt wird, wir müssen prüfen, wie wir in Zukunft damit umgehen können, sowohl in der Ausbildung von Pädagogen, als auch in der Erforschung dieser Kulturen, Schulkulturen, Heimkulturen, Internatskulturen. Wie sieht es in diesen Einrichtungen tatsächlich aus, was können wir darüber tatsächlich in Erfahrung bringen, jenseits aller schönen Papierrhetorik."