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Shanzhai steht für Parodie und Produktpiraterie

China gibt Rätsel auf - den westlichen Betrachtern wie auch seinen Einwohnern selbst. Der chinesische Schriftsteller Yu Hua versucht, verschiedene Phänomene innerhalb der chinesischen Gesellschaft zu erklären, indem er Begriffsentwicklungen nachgeht. In China ist sein Buch verboten.

Von Silke Ballweg | 14.01.2013
    In Deutschland ist der chinesische Autor Yu Hua vor allem als Erzähler bekannt. Seine bisherigen Bücher "Leben", "Der Mann, der sein Blut verkaufte" und "Brüder" sind sprachgewaltige, bildreich überbordende und viele hundert Seiten dicke Romane, die Chinas oft brutale Geschichte während der vergangenen Jahrzehnte thematisieren.

    Vor allem in dem Roman "Brüder" zeichnet Yu Hua auf fast schon irrwitzige Weise den rasanten Wandel in der chinesischen Gesellschaft nach. In seinem jüngsten, im S.Fischer Verlag erschienenen Buch "China in zehn Wörtern" vertieft er nun einiges von dem.

    "In 'Brüder' habe ich die letzten 40 Jahre der chinesischen Geschichte dargestellt. Mir reichte es aber nicht, nur fiktional mein Land zu beschreiben, ich wollte auch nichtfiktional, essayistisch über China schreiben. Für mein neues Buch habe ich mir deswegen Kriterien überlegt, die mich leiten sollten. Ich habe mich an Begriffen orientiert. An Ausdrücken, die in China heutzutage einerseits sehr populär sind. Und an Begriffen, die früher in der Sprache nicht vorhanden waren, die erst vor Kurzem entstanden sind."

    Und die somit Veränderungen innerhalb der Gesellschaft wiedergeben. Das chinesische Wort Shanzhai, das eigentlich Gebirgsdorf bedeutet, ist etwa so ein Phänomen. Im Chinesischen umschreibt Shanzhai nun auch das illegale Kopieren von Produkten. Fake-Handys, Fake-Software oder auch illegale kopierte Filme, das alles ist Shanzhai.

    Das Wort umfasst jedoch noch mehr als nur Produktpiraterie. Shanzhai bezeichnet auch bissige Parodien. Die sind im Zuge der allmählichen Öffnung Chinas in den vergangenen Jahren entstanden. Etwa Privatpersonen, die als Fake-Mao-Zedong in Fernsehshows auftreten und die politischen Parolen des einstigen Staatsführers nachahmen. Oder kritische Chinesen, die persiflierende Nachrichtensendungen produzieren, sie übers Internet verbreiten und sich darin über die staatlich kontrollierten Medien lustig machen.

    In einer Gesellschaft wie der nach wie vor kontrollierten, chinesischen ist Shanzhai etwas Subversives. Yu Hua schreibt:

    Wir erkennen, dass das Phänomen Gebirgsdorf im heutigen China durchaus auch eine gewisse positive Bedeutung hat. So gesehen stellt es eine Herausforderung der Hochkultur durch die Graswurzelkultur dar, zugleich aber eine Herausforderung alles Offiziellen durch das Volkstümliche und schließlich auch eine Herausforderung der Starken durch die Schwachen. Wenn wir das Gebirgsdorfphänomen einmal mit der Darbietung eines Performancekünstlers vergleichen, so hat es durch das gewaltige Ausmaß, das es inzwischen angenommen hat, gewissermaßen das ganze Land in diese Perfomance einbezogen.

    Volk, Führer oder Revolution sind weitere Begriffe, anhand derer der in China überaus populäre Yu Hua auf essayistische, assoziative Art und Weise über die Entwicklung in seiner Heimat während der vergangenen Jahre nachdenkt.

    In einem Kapitel widmet er sich etwa der geänderten Bedeutung des Wortes "Unterschied". Dass Chinesen den Begriff heute im Vergleich zu der Zeit vor 30 Jahren in einem gänzlich neuen Kontext gebrauchen, spiegelt die Entwicklung der gesellschaftlichen Realitäten wieder.

    Vor gut drei Jahrzehnten gab es in China keine augenfälligen Unterschiede zwischen den Menschen, und dennoch führten wir dieses Wort tagtäglich im Mund und sonderten nichtssagende Phrasen über nichtssagende Unterschiede ab. Jedermann suchte nach den eigenen "ideologischen Unterschieden". Wie der Novize im Kloster Tag für Tag seine Sutren herunterbetet, so redeten wir ohne Sinn und Verstand von Unterschieden. Auch nach dreißig Jahren hat das pausenlose Gerede über Unterschiede nicht aufgehört, nur dass es heute natürlich nicht mehr um hohle "ideologische", sondern um handfeste soziale Unterschiede geht, um die Unterschiede zwischen Arm und Reich oder Stadt und Land, Unterschiede im Entwicklungsniveau, im Einkommen und so weiter und so fort."

    Yu Huas Reflexionen liefern keine theoretischen Analysen von Politik und Gesellschaft, sondern praktische. Er beschreibt konkrete Phänomene aus dem Alltag seiner Heimat. Der 52-Jährige vergegenwärtigt sich das China vor 20, 30, 40 Jahren. Er versucht zu erklären, warum das heutige China so ist, wie wir es kennen.

    "Für Chinesen haben sich während der vergangenen vier Jahrzehnte Entwicklungen vollzogen, die sich in Europa über vierhundert Jahre erstreckt haben. China hat sich rasend schnell verändert. Heute können wir zwar die Ergebnisse sehen, aber wir wissen oftmals nichts über die Gründe. Mich aber interessieren gerade diese Ursachen, denen wollte ich nachspüren."

    Und so reflektiert Yu Hua viel über seine Kindheit und Jugend. Eine zentrale Stellung nimmt dabei die Epoche der Kulturrevolution ein. Sie sollte die Gesellschaft von allen vermeintlichen reaktionären Übeln befreien und riss von 1966 an die Bevölkerung in einen Strudel aus Fanatismus und Gewalt. Wer an einem Tag noch als vorbildlicher Kämpfer galt, konnte bereits am nächsten Tag selbst am Pranger stehen.

    Die grausame Phase forderte Millionen Opfer. Mit dem Tod Mao Zedongs 1976 gilt sie gemeinhin als beendet. Yu Hua schreibt aber nun: Die Revolution wurde eigentlich auch anschließend weitergeführt - auf wirtschaftlichem Gebiet:

    Ich möchte hier insbesondere einen Aspekt hervorheben: den raschen Aufschwung der Privatwirtschaft. So, wie während der Frühphase der Kulturrevolution auf einen Schlag unzählige Rebellen-Quartiere entstanden, wurden in den 1980er Jahren in China zahllose Privatfirmen von Leuten gegründet, die ihren revolutionären Fanatismus kurzerhand und umstandslos durch das hemmungslose Streben nach dem großen Geld ersetzten. Viele der zahllosen neu entstandenen Privatbetriebe verschwanden schnell wieder von der Bildfläche, doch an ihre Stelle traten genauso rasch neue, ganz ähnlich wie in revolutionären Zeiten immer neue Kämpfer an die Stelle der Gefallenen treten und den Kampf weiterführen.

    Yu Hua hebt in seinen Texten vor allem das Unerwartete und Widersprüchliche innerhalb der chinesischen Gesellschaft hervor. Er greift unter die Oberfläche des heutigen Aufschwungs und bringt jene Parallelen zum Vorschein, die noch aus früheren Zeiten wirksam sind.

    So glaubt er etwa, dass auch die Geisteshaltung der maoistischen Politkampagnen heute noch wirksam ist. Nur, dass die Partei das Volk nicht länger mit pompösen Parolen und Aufmärschen beeindrucken will, sondern mit gigantischen Bau- und Infrastrukturprojekten.

    Yu Huas Analysen des heutigen Chinas sind spannend zu lesen, allerdings nicht immer ganz leicht zu verstehen, vor allem dann nicht, wenn dem Leser der chinesische Kontext fehlt. In China selbst waren die Betrachtungen den Machthabern aber wohl allzu brisant. Die staatlichen Zensoren haben das Buch des eigentlich beliebten Schriftstellers verboten.

    Yu Hua: "China in zehn Wörtern. Eine Einführung"
    S. Fischer Verlag, 335 Seiten, 19,99 Euro