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"Sie schaden nicht, sie wirken aber auch nicht"

Der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser hat scharfe Kritik an den deutschen Programmen zur Integration von Migranten geübt. Etliche Studien belegten, dass sowohl bilinguale Schulprogramme als auch Sprachkurse für Ausländer wirkungslos bleiben, sagte Esser. Darüber hinaus gebe es erhebliche methodische Fehler bei der Evaluierung der Programme.

    Michael Köhler: Im Zuge der Integration ausländischer Zuwanderer gab es in der Vergangenheit Integrationsprogramme, deren Verlässlichkeit und Wirkung nun von wissenschaftlicher Seite angezweifelt wird. In einem Berliner Memorandum kritisieren Migrationsforscher die vorliegenden Studien hinsichtlich Spracherwerb , Bildung und Migration. Den Mannheimer Soziologen Hartmut Esser habe ich gefragt wogegen sich seien Kritik richtet.

    Hartmut Esser: Die Kritik richtet sich im Wesentlichen gegen zwei Sachen: Entweder dass die Programme auf nicht belegbaren wissenschaftlichen Hypothesen beruhen, wie die bilingualen Schulprogramme. Da gibt es eine Reihe von Studien inzwischen seit 30 Jahren, und im Grunde kommt aus allen raus, also mit den Metaanalysen usw.: Sie wirken nicht. Sie schaden nicht, sie wirken aber auch nicht. Ich nenne sie mittlerweile Placebos. Das ist das eine. Man sollte vielleicht dazu sagen, es gibt nicht eine Untersuchung, die alle relevanten Faktoren kontrolliert.

    Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt, die Sprachkurse, die jetzt staatlich eingerichtet worden sind nach norwegischem und schwedischem Vorbild, sind auch evaluiert worden in Holland und Schweden, aber die Studien zeigen entweder gar keine Wirkungen oder nur äußerliche Wirkungen, das heißt, man hat, auf Deutsch gesagt, wie das Geld ausgegeben ist also wie viele Teilnehmer waren, beziehungsweise da sind die methodischen Erfordernisse noch deutlicher verletzt. Es gibt zum Beispiel keine Studie mit Kontrollgruppen, also wo man gesehen hat, was passiert eigentlich mit den Migranten, die gar nicht in so einem Kurs drin waren. Das sind ganz elementare Fehler, so dass man nicht sagen kann, ob bei den Sprachkursen eine Wirkung da ist. Bei dem bilingualen Programm kann man sagen, es gibt keine Wirkung. Bei den Sprachkursen könnte es sein, aber man hat es nicht überprüft und trotzdem für viel Geld - 350 Millionen, glaube ich, im Jahr - sie eingerichtet. Das ist das, was ich sehr kritisiere.

    Köhler: Wieso fällt uns das erst jetzt auf?

    Esser: Da hat keiner nach gesehen. Ich meine, ich war ja ganz frohen Mutes. Ich habe gedacht, ich gucke da einfach mal hin im Rahmen meines großen Berichts über Sprachen und Integration, sehe mal nach, was es an Wirkungsstudien dazu gibt, auch zu den Schulprogrammen, und meine Überraschung war wirklich groß, dass ich sagte, die machen irgendetwas - seit Jahren übrigens in den Schulen oder mit den Sprachprogrammen - und behaupten auch bestimmte Wirksamkeiten. Wenn man in die Studien reinsieht, dann kommt da gar nichts raus. Es ist wirklich schon fast skandalös, muss ich sagen, auch für die Wissenschaft selber.

    Köhler: Wer hat es sich bei dem Ganzen zu leicht gemacht, wir, die wir die Programme aufgelegt haben, oder die Zuwanderer, oder beide?

    Esser: Wir, die die Programme aufgelegt haben. Die Zuwanderer bestimmt nicht. Ich meine, sie sind ja sozusagen Opfer von all diesen Beschlüssen. Ich meine, es sind auch keine Wissenschaftler. Ich finde, die Wissenschaftler haben versagt, dass da keiner gewesen ist und irgendeinen Psychologen mal gefragt hat: Wie sieht denn ein experimentelles Design eigentlich aus? Das wird offensichtlich von Migrationsforschern gemacht, die von den erforderlichen methodischen Vorkehrungen wenig Ahnung haben, um es mal so auszudrücken. Und dann, das ist Schlimme ist, wird irgendwas zitiert, eine Behauptung aufgestellt, und ich habe dann ganze Zitatketten gesehen, wo dann dieser Satz wiederholt wurde, und jeder hat es für richtig befunden, einschließlich der Kommission dann hinterher. Denen mache ich deshalb auch keinen so starken Vorwurf, aber irgendeiner von den Wissenschaftlern darin, dem hätte das auffallen müssen, und das ist bis jetzt nicht passiert.

    Köhler: Wir haben jetzt sehr viel über wissenschaftspraktische Kritik gesprochen, die Sie jetzt ausgefaltet haben. Ist es so, dass die Wanderungsbereitschaft von Migranten, denn die haben ja Motive, dass sie ihr Leben verändern, dass sie sich woanders hin bewegen, dass die aber nicht notwendigerweise auch so etwas wie eine Kulturanpassung einschließt?

    Esser: Nein, so würde ich das nicht sagen. Also wir denken nicht in Bereitschaften oder Einstellungen, sondern wir denken eher in Opportunitäten. Man geht nicht irgendwo hin und will sich jetzt irgendwie anpassen, sondern man hat ein Problem zu lösen, Arbeitsplatz meistens, oder da ist schon ein Verwandter oder so etwas. Das ist das Primäre, und dann kommt dazu, dass für die Integration für uns, die Aufnahmegesellschaft dann wichtig ist, wenn man jetzt ein Interesse daran hat, dass es nicht in der Unterschichtung landet, dann muss man im Grunde darauf achten, dass die Altersopportunitäten spätestens für die Kinder so sind, dass sie ohne große motivationale Bereitschaft sozusagen die Sprache von alleine lernen können. Und das können sie natürlich nicht in den hochethnisch konzentrierten Gebieten und Stadtteilen, dann in den Vorschulen nicht, wenn da nur noch Türkenkinder drin sind, dann in den Grundschulen nicht usw. Darüber denken die Migranten gar nicht nach, wie wir auch eigentlich nicht, wenn wir irgendwo hingehen. Das sind die Opportunitätsstrukturen, die die Gesellschaft bereitstellt, und da ist sozusagen die Politik und die Wissenschaft gefordert, auch gegen die Migranten manchmal zu sagen, wir müssen da jetzt etwas machen, aber nicht appellieren an Motive. Die Motive kommen sozusagen dazu oder die kann man voraussetzen, gerade für Kinder, die lernen ganz motivfrei alles Mögliche, und da setze ich an.

    Köhler: Ist die Segregation zu hoch und die Durchmischung zu gering, oder ist das zu einfach?

    Esser: Ja, das kann man so sagen. Also das halte ich für den Hauptfaktor. Das hat damit zu tun - ich beziehe mich jetzt nur auf Spracherwerb, aber es ist der Schlüssel für alles andere - Sprache lernt man im Grunde nicht durch Kurse, das ist ganz schwierig. Jeder weiß das von der Schule her. Man vergisst das wieder, wenn es nicht weiter gepflegt. Man lernt nicht, wenn man nicht richtig motiviert ist. Sprache lernt man frühzeitig als Kind motivfrei und durch Gelegenheiten im Alter, und die hat man natürlich nur im Alltagskontakt. Mit wem aber? Mit Sprechern der anderen Sprache, und das sind die Kinder in den Kindergärten oder in den Grundschulen. Wenn da schon die Gelegenheiten nicht da sind, weil die anderen Kinder nicht da sind, dann geht das nicht. Also eine gewisse Mischung wäre meiner Meinung nach die Lösung des Problems. Das ist praktisch enorm schwer umzusetzen, aber ich halte das für das zentrale Problem. Im Übrigen gilt auch, ganz anders als viele gedacht haben: Ab zwölf lernt man nicht mehr viel dazu.