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Sie weinen doch nicht, mein Lieber?

Über Zeitgenossenschaft in der Literatur wird seit jeher gestritten. Nicht alles, was die Menschen einer Epoche schreiben, verhält sich zu ihr zeitgenössisch. Manches braucht lange Lagerung, um von einer späteren Generation anerkannt zu werden, anderes gehört einer viel früheren Epoche an, ist sozusagen ein Nachhall der Lesegewohnheiten des Autors. Das Gros der Literatur war immer rückwärtsgewandt, nur ein kleiner Teil wies in die Zukunft. Wir haben heute mit dieser Ungleichzeitigkeit keine Schwierigkeiten mehr. Da es uns an einem verbindlichen Kanon mangelt, sind die zu früh zu Papier gekommenen Werke ebenso legitim wie eine stilistisch überkommene Prosa mit Goldrand. Aber halt! Es gilt das Gesetz des doppelt Gemeinten: Man darf zwar jedes Stilmodell beleihen, aber ohne entsprechenden Verweis, dies sei nicht ernst gemeint, zieht man rasch scheele Blicke auf sich. Da wundert es schon, wenn man plötzlich im Stapel der Neuerscheinungen auf ein Buch stößt, das sich so gar nicht zeitgenössisch geriert. Wolfgang Schmidt heißt der Autor und ist ein Spätberufener; seinen ersten Roman legte er im siebzigsten Lebensjahr vor. "Sie weinen doch nicht, mein Lieber?" überschreibt er etwas umständlich sein drittes Werk, eine zum Roman aufgewertete Novelle.

Florian Felix Weyh |
    Eine Novelle. Gradlinig erzählt, mit wenigen Seitensträngen, als Ganzes seltsam entrückt. Zacharia (ohne "s") ist ein junger Mann, der gerne todessüchtige Bilder malt und sich sonst in nihilistischen Gedanken übt. Er gerät an eine junge Frau namens Gretchen, die eine depressive, im Trauerwahn gefangene Mutter zuhause sitzen hat. Ihr Objekt der Begierde, ein entfernter Vetter, ist früh gestorben; mit Gretchens Vater, dem Tuchhändler Laube, verbindet sie nur eine äußerliche Ehe, die freilich auf Seiten des Mannes von schier unstillbarer sexueller Begierde getragen wird. Auch Zacharias Mutter, früh verwitwet, ist dem Konkubinat mit ihren wechselnden Untermietern nicht abgeneigt, bis sich der Sohn, volljährig geworden, leise aber bestimmt zum Hausherren erklärt. Von da an ist es mit der körperlichen Emanzipation der Mutter vorbei, und folgerichtig muß sie gegen Ende des Buches einer Tuberkulose erliegen. All dies trägt sich in Böhmen zwischen den Kriegen zu - also dem deutsch-jüdisch geprägten Teil der Tschecheslowakei -, und man ahnt schon in der kurzen Zusammenfassung, daß die Novelle im Kern erhitzt ist. Vom Verlag ganz zeitgenössisch als "Liebesgeschichte" gepriesen, handelt es sich um schwülwarme Treibhausprosa.

    "Erotisch" nannte man das vor der sexuellen Revolution, und das Erotische wird bei Wolfgang Schmidt durchgängig beschworen. Da vollzieht der Tuchhändlers den gemeinsamen Selbstmord mit seiner gemütskranken Frau in zweideutiger Stellung in der Badewanne, da fertigt Zacharia von Gretchen Aktbilder, die sie zum Vorwurf verleiten: "Warum malst du meine Vagina so widerlich?" - und der Leser muß sich zwangsläufig fragen, wieso man die Vagina überhaupt darauf sieht? Auch die nachfolgende Beschreibung ändert nichts daran, daß das Wort ein inneres Organ bezeichnet, es - wenn überhaupt - "Vulva" heißen müßte, und der Satz dann immer noch von bizarrer Gespreiztheit wäre. Wann immer es konkret wird in dieser Novelle, kommt es zur sprachlichen und erzählerischen Bruchlandung. Dann nämlich rutscht das geheimnisumwitterte, immer nur umschriebene Körperlich-Sexuelle, das den Text förmlich durchtränkt, in die kalte, bildlose Sprache der Medizin ab, und man kann spüren, wie schwer es dem Autor fällt, die selbst gesetzten Hürden zu überwinden. Auch vorm Gegenteil ist er nicht gefeit, der überladene Kitsch gehört ebenfalls ins Repertoire: "Ihr Schoß war golden wie ein Blatt im Herbst" - das blonde Schamhaar mag sich da geschmeichelt kräuseln.

    "Erotisch" nannte man das früher, und der Weg von beklemmender Atmosphäre zu verklemmter Literatur war kurz. Diese Art von Altherrenprosa mag im Anbruch einer neuen Zeit ihren Stellenwert gehabt haben - also etwa gegen Ende der fünfziger Jahre - aber heute, gegen Ende des Jahrhunderts, taugte sie selbst als Dokument kaum noch etwas - wenn sie denn ein Dokument wäre. In diesem Punkt hält sich der Klappentext bedeckt; die Neuerscheinung anno 1997 kann sehr wohl von Wolfgang Schmidt in den Fünfzigern geschrieben worden sein und in der Schublade überdauert haben, und so manches an dem Buch nährt diesen Verdacht. Die Stellen, die literarisch aufhorchen lassen, sind rar gesät, etwa wenn die Obduk-tion des Selbstmörderpaares durch den ungeübten Hausarzt geschildert wird, der sich vom Sektionsgehilfen sagen lassen muß, wo er welche Schnitte anzubringen hat. Da lebt die sonst betont umständliche Prosa für einen Moment, um alsbald wieder ins Umfeld längst entschwundener Autoren wie Wiechert, Binding, Hagelstange einzutauchen. Aber wie war das mit der Zeitgenossenschaft? Wo sie nicht vorliegt, mag es immerhin einige Menschen geben, die selbst in anderen Epochen leben und lesen. Für sie gilt das Gesagte als Empfehlung.