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Siebzig verweht V.

"Heute gilt es für löblich, gegen den Strom zu schwimmen, aber das sind nur Pißrinnen.

Klaus Modick |
    Diese Notiz stammt nicht von einem jungen wilden, sie stammt vielmehr von einem sehr alten, inzwischen milde gewordenen Autor - von Ernst Jünger nämlich, der mit 102 Jahren wohl der älteste, noch produzierende und publizierende Schriftsteller, nicht nur Deutschlands, sondern der Welt sein dürfte. Im Laufe dieses langen, erst kämpferischen, später demonstrativ zurückgezogenen Lebens, ist Jünger gelegentlich mit, zumeist aber gegen den Strom des Zeitgeistes geschwommen. Wie kaum ein anderer Deutscher hat er die Erschütterungen und Wandlungen seiner Nation in seinem, in unserem 20. Jahrhundert erlebt und analysiert, in den Zwanziger Jahren publizistisch provoziert und später distanziert beobachtet. Sein voluminöses, inzwischen über zwei Gesamtausgaben längst hinausgewachsenes Werk, wurzelt zwar in den Traditionen des 19. Jahrhunderts, stellt jedoch zugleich eine große Gewinn- und Verlustbilanz des 20. Jahrhunderts dar und weist mit Prognosen und Spekulationen ins kommende Jahrhundert voraus. Die Zeiterfahrung und Zeitzeugenschaft wird für Jünger allerdings immer stärker zu einer bloßen Passage, wie er es etwa mit einem Zitat Grillparzers andeutet:

    "Will unsre Zeit mich bestreiten, / Ich lass es ruhig geschehn: /

    Ich komme aus andern Zeiten / Und hoffe in andre zu gehn.

    Und in einem Interview zur Kunstbiennale 1993 in Venedig äußert sich Jünger über Francis Bacon folgendermaßen:

    "Seine Studie zum Porträt Innozenz' X. enthält sowohl rück- wie vorausblickende Züge und dazwischen die furchtbare Gegenwart.

    Auch wenn er sie nicht immer geliebt hat - der furchtbaren Gegenwart hat Jünger sich stets gestellt. Neben Romanen, Erzählungen und Essays gehören die Tagebücher zum Kern dieses Werks, wenn sie nicht sogar das eigentliche Zentrum bilden. Schon Jüngers Debüt >>In Stahlgewittern von 1920 << basierte auf einem, für die Publikation stilistisch und dramaturgisch zugespitzten, Tagebuch seiner Erfahrungen in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs; und seitdem hat der Autor in größeren und kleineren Lieferungen als eine Art work in progress Tagebücher vorgelegt, die allerdings immer im Hinblick auf ihre Publikation konzipiert,

    geschrieben und, in Zusammenarbeit mit seiner Frau, redigiert sind. Die Unmittelbarkeit der Tagebuchform wird hier also geglättet und stilisiert, und nicht selten hat man als Leser das Gefühl, daß Jünger bestimmte Dinge dezent verschweigt, die von erheblicher Brisanz sein könnten.

    "Im Busen bewahre ich unter anderem auch Aussprüche von Mächtigen, die ich gehört habe und deren Notierung ihr Ansehen noch mehr schmälern würde als ohnehin."

    Ob solche Verschwiegenheit altersweise ist, mag dahingestellt bleiben; altersmilde ist sie mit Sicherheit - der alte Krieger hat seinen Frieden mit der Welt gemacht. Jetzt erscheint also der fünfte Band der Alterstagebücher mit dem programmatisch-doppelsinnigen Titel >>Siebzig verweht <<. Verweht meint nicht nur die vom Wind der Zeit verwehten, sondern auch die verwundenen, die verschmerzten Jahre - und dies melancholische verweht signalisiert Gelassenheit, eine bis zur Selbstauflösung gehende Übereinstimmung mit der den Autor umgebenden Welt. In einer der häufig wiederkehrenden Beschreibungen seiner Aufenthalte und Aktivitäten im Garten seines Hauses heißt es einmal:

    "Ein gutes Gefühl: im Umfeld zu sein. Man sieht sich auf einem Bilde; das Selbstgefühl erlischt."

    Der neue Band umfaßt die Jahre von 1991 bis 1995, also dem Jahr, in dem der 100. Geburtstag des Autors als eine Art Staatsaktion auf allen Medienkanälen gefeiert wurde. Es sind Jahre, in denen das Gerede vom Ende der Geschichte schlagend und oft schmerzhaft widerlegt wurde, und Jünger registriert den Golfkrieg ebenso wie die deutsche Vereinigung, den Bürgerkrieg auf dem Balkan ebenso wie die fatale Entwicklung der Kerntechnologie, die Drogenproblematik, das Ozonloch und den Raubbau an der Natur. Er registriert all dies fast leidenschaftslos, wie aus großer Ferne:

    "Beim nächtlichen Flug über die Kontinente leuchten die Städte wie entzündete Knoten im Nervengeflecht. Das ist nicht das Licht friedlicher Hausungen. Sehr fremd - und der Energiehunger wächst."

    Eher selten sind eindeutig kritische Bemerkungen wie die über Genmanipulation und künstliche Befruchtung, Phänomene, die als Phase einer sich unausweihlich vollziehenden Erdrevolution gedeutet werden:

    "Das Schauspiel der Gegenwart ist der verzweifelte Kampf gegen den Triumph der Naturwissenschaft, der sich mehr oder minder heimlich in den Laboratorien vorbereitet."

    Ob im Großen oder Kleinen, ob im welthistorisch Bedeutenden oder im deutschen Kleinkarierten, Jünger bleibt mit seinen Befunden stoisch. Zur Rechtschreibreform beispielsweise, deren Diskussion inzwischen hysterische Züge angenommen hat, notierte er bereits 1992:

    "Falls der Heckenschnitt und der Primat der Verkehrsordnung fortschreiten, ist das Ergebnis vorauszusehen (...) Der Autor wird sich damit abfinden (...). Ein Zwang zur Orthographie kann nur auf der Schule ausgeübt werden - sonst darf jeder so schreiben, wie er will. Er stellt sich damit vor."

    Aber das Tagesgeschehen, ja, in gewisser Weise sogar die Geschichte, interessieren und berühren Ernst Jünger im Grunde nicht mehr. Zwar liefert er hin und wieder noch bruchstückartige Rückblicke auf die eigene Biographie, auf seine Konflikte mit dem Faschismus, auf seine Pariser Begegnung mit dem skandalösen Louis-Ferdinand Celine oder auf sein problematisches Verhältnis zu Carl Schmitt, doch sein Interesse zielt in eine andere, sehr viel offenere Richtung:

    "Statt mit solchen Rückblicken Zeit zu verschwenden, sollte ich mich einem neuen, einem vorletzten Abenteuer zuwenden (...): dem Uralter. Ich habe noch nicht seinen Stil gefunden, den "esprit de mon age" noch nicht erfaßt. Aber es ist ein Abenteuer, wenn die Toten näher kommen - nicht nur in den Träumen, sondern lebendiger denn je. Bei guter Sonne lasse ich Seifenblasen über den Garten und seine Blumen schweben: sie sind das Sinnbild des Vergänglichen. Und sie sind schön."

    Auf der Suche nach dem Stil des Uralters sind die Tagebücher freilich ein bedeutender Schritt; manchmal liest sich dieser Text, genauer gesagt: diese Textcollage, durchaus wie ein schönes, entspanntes, manchmal allerdings auch etwas mattes Spiel mit Seifenblasen. Denn der Autor läßt hier weitgehend bekannte Motive und Versatzstücke des eigenen Denkens und Schreibens Revue passieren; das Tagebuch des Hundertjährigen wird somit zu einem Glasperlenspiel, montiert aus Zitaten und Paraphrasen fremder und eigener Werke, aus Interviews, Aphorismen und Notaten, aus Ein- und Ausfällen, Erinnerungen und Interviews, aus Briefstellen an und von Ernst Jünger, aus Ansprachen und Dankreden. Vor allem aber ist dies Tagebuch wesentlich auch ein Nachtbuch, ein Traumbuch.

    "Nachts in Sardinien, nahe Villasimius, begleitet von zwei buddhistischen Mönchen in Turnschuhen. Schlangen am Strand."

    Manche Traumbeschreibungen werden nur in solcher aphoristischen Kürze skizziert, manche gleichen sehr genau ausformulierten, kurzen Erzählungen. Träume als andere Seite der Wirklichkeit haben Jünger stets fasziniert, aber nun ist die literarische Technik, mit der er seine Träume dem Tagebuch einwebt, perfektioniert, und die Träume werden zum zentralen Thema - weit über ein Drittel des Textes sind Traumbeschreibungen und Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Traum und Literatur:

    "Eine Erzählung fasziniert um so stärker, je mehr sie sich dem Traum nähert, und nicht minder ein Traum durch seinen Wirklichkeitsglanz. Der Kohlenstoff modifiziert sich zum Graphit - man kann damit schreiben - und dann zum Diamanten: er wird durchsichtig. Zuletzt weiß der Leser nicht, ob der Autor sie erlebt oder geträumt hat."

    An anderer Stelle werden die Phantasmen des Traumgeschehens mit - den Phantasmagorien umgeschriebener Romane verglichen. Jünger hält es in einer gewagten Spekulation sogar für möglich, daß es im Traumbereich zu Kontakten mit anderen Individuen kommen kann, Träume also als eine Art mentales Kommunikationsmedium. Alles in allem gibt es für diesen Autor keine Unterschiede mehr zwischen den Erfahrungen des Wachseins und den Bildern des Schlafs; der Traum kann das Leben sein, das Leben ein Traum:

    "Das Ende eines großen Traums: Wenn wir eines Tages erwachen und sind tot."

    Vor allem aber ist das surrealistische Traumgeschehen, dessen Darstellung in seiner assoziativen Freiheit und stilistischen Präzision die Nachtstücke aus seinem bedeutenden Frühwerk >>Das abenteuerliche Herz << noch übertreffen, für Jünger ein Medium der Annäherung ans Numinose, an Transzendenz, Metaphysik und Mythos:

    "Träume sind stärker als das Tagesgeschehen. Sie sind Wirkliches schaffend und in ein tieferes Bewußtsein eingebettet, das im Schlafenden erwacht. Sie sind dem Mythos und seinen Gestalten näher als der Geschichte."

    Das Wirkliche ist für Jünger also nicht die Geschichte, sondern der Mythos. Und dementsprechend sucht dieser radikale Individualist das Wesentliche nicht mehr im Individuellen, wenn er immer noch und immer wieder versucht, dem im Wortsinn Wesentlichen der menschlichen Natur, insbesondere seiner eigenen, auf die Spur

    zu kommen. Im Kontakt mit den Schildkröten, die er als Haustiere hält, ist er sich sicher, daß sie ihn erkennen.

    "Ich meine das natürlich nicht 'akzidentiell', also persönlich, sondern 'essentiell' im Sinne von Thomas von Aquin oder 'wesentlich' nach unserem Angelus Silesius. Nur darauf kommt es an."

    Und unter dem Wesentlichen versteht Jünger offenbar das, was mit einer religiösen Begrifflichkeit als Seele gefaßt wird, als etwas Unzerstörbares, das sich allerdings erst jenseits der Zeitmauer zu erweisen hat. Zeitmauer, das ist einer der Zentralbegriffe in Jüngers Werk; sie markiert die Schwelle zwischen der Welt der Phänomene und der Transzendenz:

    "Die Kenntnis oder - besser - die Ahnung des Wesentlichen ist möglich diesseits der Zeitmauer, und zwar eher in den Künsten als in den Wissenschaften, einschließlich der Theologie. Erkenntnis nur hinter der Mauer - dort sind die Probleme gelöst."

    Jüngers Weltbild ist und bleibt also ästhetisch; es ist aber nicht ästhetizistisch, ist kein l'art pour l'art, weil der Kunst in ihrem Primat über Wissenschaft und Theologie eine klare Funktion zugewiesen wird, die Annäherung ans Transzendente eben:

    "Wenn ich den Morgen mit einigen Seiten guter Prosa beginne (...) ist das so gut wie eine Andacht - ja besser noch, da sich unmittelbare Wirkung zeigt. Einfache Dinge beginnen zu sprechen wie der Zweig einer Linde, der sich im Winde bewegt."

    In Jüngers Bemerkung, als vorletztes Abenteuer habe er das Uralter zu bestehen und dafür einen Stil zu entwickeln, steckt natürlich implizit bereits die Erwartung des letzten Abenteuers, des großen Übergangs aus dieser in eine andere Welt. Daß ihn eine andere Welt erwartet und keineswegs das Nichts, davon ist Jünger überzeugt; der alte Herr ist keineswegs lebensmüde, aber auch gegenüber dem Tod bleibt er neugierig, und in diese Neugier ist auch ein Hauch Erlösungsphantasie gemischt. Daß er seine eigene Lebenszeit als Zwischen- und Übergangszeit empfindet, hat Jünger oft betont. Manchmal hat er diesen Gedanken historisch begründet; jetzt begründet er ihn rein metaphysisch:

    "Wir leben in einem Interregnum, in einer Höhle namens Zeit mit einem Schimmer von Licht. Vorher war es besser, nachher wirds besser sein - zum mindesten schmerzlos, das läßt sich sicher voraussagen."

    Der Mensch also als ein Wesen des Übergangs, das Individuum eine vorübergehende Konkretion. Dieser fünfte Band der Tagebücher "Siebzig verweht" ist auch, wen würde es wundern angesichts der unbestreitbaren Todesnähe dieses Autors, ein metaphysisches Passagenbuch, das sich furchtlos und gelassen der letzten Grenze nähert.

    "Denkbar wäre in Sekunden des Übergangs eine Melodie, in welcher die Mannigfaltigkeit verklingt: So einfach war es also."

    Der als sogenannter Drogenguru bekannt gewordene amerikanische Psychologe, Timothy Leary hatte im vergangenen Jahr seinen Tod zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht, indem er Freunde, aber auch Journalisten und Kamerateams an sein Sterbebett einlud. Eine derartige Inszenierung dürfte Ernst Jünger, für den Öffentlichkeit - nahezu identisch mit lesender Öffentlichkeit ist, als abgeschmackt empfinden, und so stellen die letzten drei Bände von "Siebzig verweht" in gewisser Hinsicht auch eine literarische Öffentlichkeit her, die auch dazu eingeladen ist, das langsame Schwinden eines beispiellosen Lebens zu beobachten.

    "Gewiß hat jeder seinen eigenen Tod, doch gibt es Unterschiede in der Großen Passage sowohl persönlicher wie allgemeiner Art. Eine besondere Frage ist jene, wie lange das Epochale uns in die Transzendenz begleitet, ob also der Übergang einen Zeitstil hat, der allerdings bereits wie an einem Fremdkörper wahrgenommen wird."

    Wenn große Persönlichkeiten vom Schauplatz treten, schwinden auch die Leidenschaften, verklingt das Skandalgeschrei, das sie freiwillig oder unfreiwillig auslösten, und der Schatten ihres Ichs verdämmert in jener Ferne, die die Nähe des Todes ist. Das zwischen Traum und Wachen, Dämmerung und Abendlicht, Ahnung und Gegenwart, Lässigkeit und Präzisison verschwimmende Tagebuch Ernst Jüngers ist, aller unbestreitbaren Mattigkeiten zum Trotz, ein einzigartiges Dokument dieses keineswegs morbiden Wegtretens, das zugleich ein Näherkommen ist, eine Annäherung. Annäherung, das ist einer der große Begriffe Ernst Jüngers für die Wahrnehmung und Benennung eines wie auch immer gearteten Jenseitigen im Hier und Jetzt. Und deshalb gibt es in diesem Tagebuch auch einen Text, der "Annäherung" heißt. Es ist ein sehr merkwürdiger Text, eine Mischung aus christlich-jüdischer Überlieferung und germanischer Mythologie, aus Gebet und Zauberspruch, aus Mantra und Gedicht.

    "Ich klopfe an, ich klopfe an, ich klopfe an. / Im Namen des Vaters, des Sohnes, / Des Heiligen Geistes und der Erde / Und des Wassers / mit dem Herrn über dem Wasser. Dank Zwerge, Zwerge, Zwerge / Waage, Waage, Waage / Sterne, Sterne, Sterne / Waage, Waage, Waage / Sinai / Sonne, Sonne, Sonne / Amen Dank."