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Siegfried Kracauer und der Briefwechsel

Dass Theodor W. Adorno aus Anlass seines hundertsten Geburtstags mit einem halben Dutzend Monographien, mit prominent besetzten internationalen Kolloquien, mit ungezählten Radio- und Fernsehsendungen und anderem Aufwand gewürdigt und gefeiert worden ist und noch wird, lässt sich im Hinblick auf die überragende Bedeutung des Philosophen und vielseitigen Theoretikers Adorno nicht ernsthaft kritisieren. Ein Fragezeichen bleibt jedoch hinter die in vielen dieser Würdigungen zu Tage getretene Tendenz zu setzen, die Konzentration auf den Jubilar in die umstandslose Identifikation Adornos mit der Kritischen Theorie und mit dem Unternehmen Institut für Sozialforschung übergehen zu lassen. Adorno nahm dort keineswegs die Rolle des herausragenden Bandenchefs ein, wie etwa André Breton sie in der parteiähnlich geführten Surrealistengruppe spielte. Trotz ihrer festen organisatorischen Struktur glich die 1933 von den Nazis ins Exil getriebene "Frankfurter Schule" mehr einem intellektuellen Freundeskreis, der, wie alle Freundeskreise, enge persönliche Beziehungen ebenso einschloss wie explosive Spannungen und wechselseitige Aversionen.

Lothar Baier | 13.10.2003
    Von all dem zeugt der zum ersten Mal öffentlich zugänglich gemachte Briefwechsel, den die beiden jüdischen Frankfurter Leo Löwenthal und Siegfried Kracauer von 1921 bis 1966, Kracauers Todesjahr, führten. Der Umstand, dass Löwenthal ab 1932 dem Institut für Sozialforschung angehörte, Kracauer trotz zeitweilig enger Zusammenarbeit mit Adorno aber nicht, hatte auf das vertrauensvolle Verhältnis zwischen den Freunden keinerlei Rückwirkung. Ihre Freundschaft selbst hatte etwas durchaus Unwahrscheinliches. Als sie sich zum ersten Mal im Jahr 1921 begegneten, war der 1889 geborene Siegfried Kracauer, ausgebildeter Architekt, ehemaliger Kriegsteilnehmer und angehender Redakteur der "Frankfurter Zeitung", ein gestandener Mann, während der elf Jahre jüngere Arztsohn Löwenthal gerade sein Studium begonnen hatte und altersgemäß noch nicht recht wusste, wohin eine vage verspürte Rebellion ihn treiben würde.

    Ein um den Frankfurter Reform-Rabbiner Anton Nobel gescharter Kreis, dem Franz Rosenzweig, Erich Fromm, Martin Buber und andere angehörten, zog eine Zeitlang auch Kracauer und Löwenthal an, doch die Erneuerung der jüdischen Tradition, die dort auf dem Programm stand, war auf die Dauer nicht ihre Sache. Schroff lehnte Kracauer in einer Rezension Rosenzweigs religionsphilosophisches Buch "Stern der Verheißung" ab. Georg Lukács' 1923 erschienene und in Deutschland sogleich heftig diskutierte Arbeit "Geschichte und Klassenbewusstsein" beschäftigte die beiden Freunde ungleich mehr, ebenso wie den gerade zwanzigjährigen frühreifen Frankfurter Studenten Adorno, von dem Kracauer sich sowohl intellektuell als auch erotisch eine Zeitlang angezogen fühlte. Im Gegensatz zu der Freundschaft mit Löwenthal litt die Beziehung zu Adorno jedoch von Anfang an unter starken Ambivalenzen und extremen Gefühlsausschlägen. 1924 schrieb Kracauer zum Thema Adorno an Löwenthal:

    Er sagte immer, dass er Dir schreiben wolle. Hat er? Sicher nicht. Er wird stets das Menschlich-Wesentliche vergessen über irgendeiner Wichtigkeit, die nicht wichtig ist. Ich bin bitter und wohl ungerecht, aber das sind die Nachwehen des durch Teddie Erfahrenen - eines der schmerzlichsten ... Erlebnisse meines Lebens. Doch ich komme ganz gut so durch. Fremde übrigens werden’s kaum merken, wie sollten sie auch, da er, der Hauptbeteiligte, von meinen Evolutionen nichts weiß.

    Der Titel "In steter Freundschaft", den die umsichtigen Herausgeber Peter-Erwin Jansen, der auch die Nachlassschriften Herbert Marcuses kenntnisreich betreut, und Christian Schmidt dem Briefwechsel Kracauer-Löwenthal gaben, trifft das Wesen dieser jahrzehntelang aufrechterhaltenen Beziehung. Auch wenn der eine an einer Arbeit des anderen Kritik übte und mit einer Auffassung nicht einverstanden war, ist von Verstimmungen nichts zu spüren. Die persönliche Lebenslage des Briefpartners und der Ehefrauen erhielt ebenso einfühlenden Anteil, wie die Entwicklung der intellektuellen Arbeit verfolgt wurde. Wahre Feuerproben hatte diese Freundschaft zu bestehen, nachdem die Machtübernahme der Nazis beider Lebensumstände über den Haufen geworfen hatte.

    Als Jude durfte Kracauer nicht mehr Redakteur der "Frankfurter Zeitung" sein und in Deutschland veröffentlichen. Mit seiner Frau Lili zog er zunächst von einem europäischen Land zum anderen, bevor er sich in Frankreich niederließ. An Arbeitsmöglichkeiten war dort nicht zu denken. Löwenthal seinerseits hatte nach der von den Nazis verfügten Schließung des Instituts für Sozialforschung zwar ebenfalls seine Stelle verloren, doch gelang es ihm mit Hilfe der Institutskontakte bereits im Jahr 1934, in den USA Fuß zu fassen. Je mehr sich die Lage in Europa gegen Ende der dreißiger Jahre zuspitzte, desto mehr drängte Löwenthal seinen unter jämmerlichsten Umständen lebenden Freund Kracauer, sich nach New York in Sicherheit zu bringen. Er unternahm auch alles Menschenmögliche, um Kracauer die notwendigen Papiere und Beiträge zum Lebensunterhalt zu verschaffen. Was tätige Freundschaft heißt, das steht in diesen Briefen, Zeugnisse einer einzigartigen mitmenschlichen Fürsorglichkeit. Im April 1941 endlich konnten die Löwenthals die Kracauers am New Yorker Pier in Empfang nehmen.

    Da die beiden Freunde von da an in derselben Stadt lebten und sich häufig sahen, dünnt der Briefwechsel nach 1941 spürbar aus. Er gewann erst mit Löwenthals Wegzug nach Kalifornien wieder an Umfang und Substanz. Kracauer arbeitete in New York an seiner Filmtheorie und hielt den Freund darüber auf dem Laufenden, Löwenthal umgekehrt schickte seine Manuskripte zum kritischen Gegenlesen nach New York. Am spannendsten lesen sich heute - und gerade angesichts des Adorno-Abfeierns - die Briefe, die nach Europareisen und nach Begegnungen mit dem in den späten fünfziger Jahren boomenden westdeutschen Kulturbetrieb gewechselt wurden. Löwenthal wie Kracauer respektierten zwar Adornos und Horkheimers Entscheidung, wieder nach Frankfurt zurückzukehren, verfolgten deren hurtiges Einklinken in den akademischen und medialen Betrieb der restaurierten Bundesrepublik jedoch mit wachsender Skepsis. 1958 schrieb Kracauer nach Hineinhören in einen westdeutschen Kongress:

    Es geht viel Kulturgeschwätz dort um; Du wirst ja auch von dem Münchner Kongress für Kulturkritik gelesen haben, wo Horkheimer und Hannah Arendt sprachen, die letztere mit größerem Erfolg. Was ist überhaupt Kulturkritik? Teddie scheint mit schuld zu sein an dieser intellektuellen commotion, die sich radikal gebärdet und ohne jede Konsequenz ist. Er schreibt ja auch so viel, und manches, was ich davon sah, ist auf einer hohen Ebene falsch, ausgeleierter Tiefsinn und eine Radikalität, die es sich gut gehen lässt. (Nicht alles; ein paar Seiten über Eichendorff sind wirklich schön und glanzvoll.) Hätte ich ihn gesehen, hätte ich ihm das alles selber gesagt.

    Leo Löwenthal kehrte ähnlich gestimmt von der einen oder anderen Europareise nach Kalifornien zurück. 1959 schrieb er an Kracauer nach der Rückkehr von einem Kongress in Italien:

    Ich bin ein besserer Europäer, wenn ich in Amerika meiner Nostalgie nachhänge, als wenn ich an einem intellektuellen Betrieb teilnehme, der tiefsinnigen und trivialen Blödsinn produziert.

    Ein objektiver Zufall hat nun auch eine andere unbekannte Korrespondenz aus jener Zeit an die Öffentlichkeit gebracht, die dem Kracauer-Löwenthal-Briefwechsel eine wissenswerte Ergänzung hinzufügt. Es handelt sich um die Korrespondenz, die Siegfried Kracauer zwischen 1941 und 1962 mit dem aus Breslau stammenden Kameramann Eugen Schüfftan führte, einem der Filmpioniere der zwanziger und dreißiger Jahre.

    Die Paare Kracauer und Schüfftan hatten sich 1941 an Bord des Dampfers «Nyassa» auf dem Weg von Lissabon nach New York kennengelernt. Bis zum Kriegsausbruch 1939 war es dem aus dem arisch-nationalsozialistischen Deutschland ebenfalls vertriebenen Kameramann möglich gewesen, aufgrund seines überragenden Renommees, etwa in Frankreich - Marcel Carné unter anderen engagierte ihn - und anderen europäischen Ländern Arbeit zu finden, ganz im Gegensatz zu exilierten literarischen Intellektuellen. Im US-amerikanischen Exil jedoch ging es ihm schlecht. Obwohl Schüfftan rasch von der Ostküste nach Hollywood in die Nähe der Studios umzog, bekam er in der Filmindustrie keinen Fuß auf den Boden. Die Gewerkschaft der amerikanischen Kameraleute A.S.C. hatte die Schotten dichtgemacht, um unerwünschte Konkurrenz fernzuhalten, mochte sie auch noch so qualifiziert sein. Die erste richtige Beschäftigung erhielt Schüfftan erst Ende der vierziger Jahre im kanadischen Montreal, wo ein neueröffnetes Filmstudio einen Experten für avancierte Aufnahmetechniken suchte. Als das Fernsehen aufkam, drehte Schüfftan als Regisseur den einen oder anderen Film für das anglo-kanadische Programm. 1977 starb Schüfftan, in seinem Herkunftsland Deutschland völlig vergessen, in New York.

    Der zwischen dem Theoretiker Kracauer und dem Filmtechniker Schüfftan geführte Briefwechsel besitzt selbstverständlich nicht die intellektuelle Substanz des Austauschs zwischen Kracauer und Löwenthal, doch wirft er ein bezeichnendes Licht auf die Härte der Existenzbedingungen, mit denen exilierte Filmleute in den USA zu kämpfen hatten. Die ausführliche Schüfftan-Filmographie und die informative Einleitung, die der Bielefelder Medienwissenschaftler Helmut G. Asper der Korrespondenz beigegeben hat, machen aus dieser "Nachrichten aus Hollywood, New York und anderswo" überschriebenen Veröffentlichung eine wertvolle Erweiterung unserer Kenntnis der Exilgeschichte.

    Peter-Erwin Jansen/Christian Schmidt (Hrsg.): Leo Löwenthal/Siegfried Kracauer: In steter Freundschaft - Briefwechsel 1921-1966. Verlag Zu Klampen, Lüneburg, 2003 - 292 Seiten, 24 Euro

    Helmut G. Asper (Hrsg.): Nachrichten aus Hollywood, New York und anderswo
    Der Briefwechsel Eugen und Marlise Schüfftans mit Siegfried und Lili Kracauer. Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2003 - 164 Seiten, 22,50 Euro