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Signale aus der Bleeker Street. Deutsche Texte aus New York

Man stelle sich eine Bushaltestelle in einem abgelegenen ländlichen Gebiet, sagen wir, in Ostfriesland vor. Warum ist diese Bushaltestelle ganz auf der Höhe der Zeit? Weil sie mit Graffiti bedeckt ist, die sich an denen orientieren, die auch in New York City zu sehen sind. New York ist beinahe bis in den letzten Winkel der Welt ein Begriff. Selbst wer nie dort war, kann mühelos Bilder und Klischees im Kopf abrufen: Wolkenkratzer, Brooklyn Bridge, Freiheitsstatue und so fort. Der Wallstein-Verlag hat dieses Frühjahr eine Sammlung deutscher Texte aus New York herausgebracht. Die Texte, ob Gedicht, Prosa oder Essay, entstanden in New York, und die meisten thematisieren die Stadt auch; alle Autoren lebten dort einige Monate als Stipendiaten des deutschen Literaturfonds.

Sabine Peters |
    Anne Duden, die für ihre Schreibweise der radikalen Subjektivität unter Literaturliebhabern hoch geachtet ist, beschreibt mit artistischer Genauigkeit den "Tonfall New York": Die in dieser Stadt deutlich überhörten Schreie, die die Schreienden in der Öffentlichkeit gewissermassen zu Luft machen, zu Unsichtbaren - und dagegen das Übertönungsvermögen des Verkehrs, "hier fängt es sich, tost auf der Stelle, donnert und grollt, verheddert sich, klumpt, zurrt sich fest, löst sich dann wieder auf und setzt sich, gleichmäßig fließend und strömend oder ruckartig schiebend, fort und geht so weiter, von Block zu Block." Der Klangteppich New York, sagt Duden, werde bald zu einem Teil des eigenen Kreislaufs, er gehe einem in Fleisch und Blut über, und man begreife das Verhalten der Amerikaner in öffentlichen Räumen allmählich, wenn sie sich selbst zu einer Art Echo des Verkehrslärms machten.

    Bernd Hüppauf, der als Professor am Departement of German an der New York University lehrt und Mitherausgeber des vorliegenden Bandes ist, geht in seinem differenzierten und sensiblen Essay ebenfalls der Frage nach, was diese Stadt mit dem macht, der sich ihr zu öffnen versucht. Wer erstmals nach New York komme, trete in ein Abbild ein, und müsse Wege suchen, die aus der vorhersagbaren Leinwand- und Bildschirmstadt hinausführten. Die Stadt polarisiere ihre Besucher, es gebe Feinde und Freunde, nichts dazwischen. Das Abenteuer New York liege nicht zuletzt darin, daß man lernen könne, Europa infrage zu stellen, und die eigenen Maßstäbe zu relativieren. Das schließt ein kritisches Wissen über das Gewalttätige der Stadt nicht aus, aber Bernd Hüppauf legt besonderen Wert darauf, das Schwindelerregende New Yorks präzis zu beschreiben, als, "Hauptstadt der Gegenwart ... Hauptstadt des jeweiligen Jetzt, die Metropole der Dominanz des je Aktuellen."

    Neben solchen, eher reflektierenden Texten findet sich Spontanes; in einer Art von Momentaufnahme wundert sich Hans-Joachim Schädlich etwa über die farbige Leuchtreklame in einer Kirche; er tut es sehr sanft, sehr ironisch. Alfred Gulden bestaunt einen Bauerngarten Ecke Bleecker Street, in dem die Anwohner Stangenbohnen ziehen; Durs Grünbein bedenkt, daß er - warum nicht auch er - in einen der zahllosen, an den Straßenrändern herumliegenden schwarzen Müllsäcke hineinpassen würde, und Hans Christoph Buch kämpft heroisch mit der immer extremen Witterung; draußen ist man ohnehin jederzeit falsch angezogen, und drinnen fallen im Winter die Heizungen aus, wohingegen im Sommer die Klimaanlagen streiken.

    Schließlich finden sich im Wallstein-Band auch unerwartete Texte: Für Uwe Timm ist New York hier nur das Sprungbrett, um nach Hamburg zu kommen: er schildert ein folgenreiches Abendessen mit Kakerlaken; eine Erzählung, die genüßlich mit dem Ekligen umgeht und die entschieden auf Effekt hingeschrieben ist. Anderes, auch sehr Entlegenes, liefert Robert Menasse; sein Text, der einem entstehenden Roman entnommen ist, spielt vor einem iberischen Hintergrund zur Zeit der Inquisition, eine Katze ist gekreuzigt worden, und jetzt liegt Pogromstimmung in der Luft. So, so, denkt man sich als Leser, "deutsche Texte aus New York". Natürlich ist es legitim, wenn Robert Menasse ein einmal begonnenes Manuskript in New York fortsetzt, und das wird ihn wohl auch nicht gehindert haben, sich Eindrücke von der Stadt zu verschaffen. Aber macht es Sinn, einen solchen Beitrag in den Band aufzunehmen? Die eingangs erwähnte "Vielfalt" der Texte ist natürlich auch eine qualitative. Das heißt, von der Leserseite aus bedacht, daß die Arbeiten der Autoren unterschiedlich leicht zugänglich sind. In ein abgeschlossenes Gedicht findet man sich im Zweifelsfall leichter hinein als in einen Romanauszug. Aber Gedicht ist eben auch nicht gleich Gedicht, und die Qualität des hier Versammelten ist weit gespannt. Wer Anne Dudens Arbeit kennt, weiß, daß ihre Prosa immer auch poetischen Charakter hat - und dagegen fallen einige Gedichte von Gerhard Falkner doch stark ab. Man stutzt, wenn es da etwa heißt: "für zwölf oder zwanzig minuten/ vergräbst du meinen atem/ bei deinem finsteren haar/ / der regen erreicht uns erst/ eine ganze weile später." Was soll das, Zeilenenden quasi mit der Axt zu schlagen? Das wirkt bedeutungsüberladen, grob gekünstelt. Ein anderes Gedicht beginnt im Duktus des Priesters: "nun habt ihr die erde/ wie ihr sie gewollt: gespritzt, geschält/ giftig/ ein miserabler planet". Gerade wenn man kulturkritische Positionen für unverzichtbar hält, entmutigt der dicke Trennungsstrich, der da grammatisch gezogen wird: im anklagenden "ihr" taucht der Dichter selbst nicht auf.

    Der gesamte Band ist, freundlich gesagt, facettenreich, und man erfährt da eben nicht nur etwas über die Stadt New York, sondern auch über den Blick und die Befindlichkeit der Schreibenden. Streng genommen aber rutscht die Vielfalt der Texte in Beliebigkeit ab. Man hätte sich bei der Zusammenstellung des Buchs mehr Gefühl für Komposition gewünscht, und so interessant viele Beiträge im einzelnen sind, der Gesamteindruck sagt: Hier wurden Texte lediglich addiert; es stellt sich, wie bei so vielen Textsammlungen, keine eigene Kontur her. Für den Leser ist das bedauerlich; die Stadt New York wird aber auch das aushalten.