Archiv


Singend durch die Berge

Im Sommer führt Österreichs einziger Wanderschäfer die Schafe hoch auf die Alm. Diese Wanderung führt Hans Breuer und seine 1200 Tiere rund 200 Kilometer quer durch die Steiermark. Aber nicht deswegen berichten wir über Hans Breuer. Sondern, weil er kein typischer Wanderschäfer ist.

Von Angelika Calmez |
    "Guat is, prima, dann geh i aufi. Sehr gut, danke. Pfürti! Eine Wiesn. Eine Wiese ham wir bekommen, eine Wiese... Ja, also ich sing."
    Hans Breuer, der einzige Wanderschäfer Österreichs, zieht mit seiner Herde eine kurvenreiche Landstraße in der östlichen Steiermark entlang. Zwei hechelnde Hunde erwarten seine Kommandos.

    "Hans Breuer zu den Hunden: "Komm, geh, langsam.""

    Schon auf den ersten Blick ist klar, dass es sich bei diesem Viehhirten um keinen der hiesigen Bauern handelt. Denn zwischen den weiß getünchten, aufgeräumten Bilderbuchhäuschen am Straßenrand wirkt Hans Breuer wie ein Exot. Sein grünes T-Shirt trägt die Aufschrift "Villenlos" – mit einem V geschrieben. Auf seinem Kopf sitzt ein Filzhut, etwa in Form eines umgedrehten Suppentellers. Die wippende Krempe reicht bis über die Schultern hinaus und taucht die feinen Gesichtszüge in Schatten. Dabei stützt sich der Schäfer auf einen faustdicken Holzstab, der über seinen Kopf hinausragt. Hans Breuer hütet nicht bloß Schafe. Er singt, und zwar professionell. Die meisten seiner Lieder schreibt er selbst. Auf Jiddisch.

    "Ich hab ein Lied geschrieben übers Internet: Schick mir a Blitzpost. Also Blitzpost auf Jiddisch heißt E-Mail. Ich schreib Lieder über die Liebe, ich schreib Lieder gegen Fremdenhass, gegen Fundamentalisten, ich schreib Lieder, die sich mit Geschichte, mit jüdischer Vergangenheit beschäftigen, ich mach Lieder über die Schafe, über die Natur."

    Wann singt ein Schäfer? Wenn er einsam ist oder fröhlich. Wenn er verliebt ist und ungeduldig. Denn er darf seine Schafe ja nicht alleinlassen.

    Die Herde: Ein Teppich aus mehr als tausend hellen und dunklen, wollenen Rücken, der den Asphalt komplett bedeckt. Es ist ein ständiges Auf- und Abwogen, ein Fließen, ein Teilen und Sich-wieder-Zusammenfinden. die Straße entlangzugehen, ist für Mensch und Tier anstrengend. Aber in diesem Abschnitt dürfen sich die Schafe ausruhen. In jedem Schattenfleck liegen einige Tiere in Gruppen aneinandergeschmiegt. Ein paar Touristen sehen ihnen zu.

    1. Kind: "Die ham halt so ein weiten Weg, und jetzt heiern sie, die Kleinen. Die großen schoffens schoa."

    2. Kind: "Hier sind die Kleinen."

    Vater: "Schau, wie süß die sind."

    Vor allem die jungen Lämmer sind erschöpft. Um das Hunderte Meter lange, lärmende Spektakel staut sich der Verkehr.

    Hans: "Hallo!"

    Autofahrer: "Wie viel hobts do beinand?"

    Hans: "Zwölfhundert mit die Lamperl."

    Fahrer: "Wos is dos für ä Raass?"

    Hans: "Juraschafe sin des."

    Fahrer: "Jura, so is, danke! Noch a schöner Soomma!"
    Noch am Vortag waren die Schafe allein mit den Helferinnen weitergezogen. Der Schäfer war in die Hauptstadt Wien gefahren, um einige türkische Restaurants mit Fleisch zu beliefern. Am Abend in seiner Wohnung in einem Wiener Außenbezirk.

    Hinter der Sitzbank im Wohnzimmer stapeln sich Kisten, aber der Tisch ist freigeräumt. Vor der nächtlichen Rückfahrt zur Herde erzählt der 54-jährige Schäfer von seiner Kindheit in Wien und warum er Schäferlieder auf Jiddisch schreibt. Sein Vater Georg war ein jüdischer Intellektueller, der Religion völlig ablehnte. Er hatte den Faschismus im englischen Exil überlebt. Die Mutter Rosl, im kommunistischen Widerstand aktiv, wurde als junge Frau von der Wiener Gestapo verhaftet und gefoltert. Die Folgen erlebte Hans Breuer schon als Kleinkind hautnah.

    "Der Vater hat das schon lange nicht mehr ausgehalten, dass sie viermal, sechsmal, achtmal in der Nacht aufgewacht ist, das Licht aufgedreht hat, um zu lesen, weil sie eben von diesen Angstträumen, Verfolgungsträumen wach geworden ist. So hab ich mich an sie geschmiegt, im Halbschlaf oder nach dem Aufwachen, wenn ich sie gefragt hab, Mama, was is, was is - ah, die sind da, die kommen uns holen. Sie hat da immer schon halbe Geschichte erzählt, da war sie noch nicht mal richtig wach."

    Wenn er ihre Hand im Schlaf auf seinem Bauch spürt, ist er beruhigt und träumt nicht von Verfolgung.
    Heute noch empört sich Hans Breuer über den Freispruch vieler österreichischer NS-Verbrecher nach dem Krieg. Nach der offiziellen Lesart der 60er-Jahre ist die Alpenrepublik Hitlers erstes Opfer. Über eine Mitschuld am Holocaust wird öffentlich nicht debattiert, Lehrer kamen damals mit dem Hitlergruß in die Klassenzimmer. Hans Breuer erlebt seine Schulzeit als Außenseiter in einem militaristischen Klima. In dem Jugendlichen wächst der Hass auf das Establishment. Mit nur 15 Jahren schließt sich Hans Breuer einer linksextremen Gruppe an: dem "Spartakus Kampfbund der Jugend". Er zieht um ins Gemeinschaftsquartier in der Wiener Theobaldgasse.

    "Und dort entstand jetzt die Kommune. Diese Gruppe, die hat sich irgendwie durch so ganz miese Nebenjobs über Wasser gehalten. So in der Nacht Schnee schaufeln gehen, für die Wiener Linien, weil untertags war ja der politische Kampf angesagt."
    Der Kampfbund hat enge Kontakte ins studentische Milieu. Seine Aktionen zielen vor allem auf die Stärkung von Lehrlingsrechten. Hans Breuer ist das jüngste Mitglied der Kommune. Er verfällt dem außergewöhnlichen Charisma des Anführers und beschränkt seinen sozialen Kosmos immer mehr auf die Gruppe. Als die Kommunarden in Frankreich eine Landwirtschaftskooperative gründen, zieht er mit. Hier, in der malerischen Landschaft der Provence, lernt er das Schäfern kennen. Mit Anfang zwanzig beschließt Hans Breuer, eigene Wege zu gehen.

    "Das Interessante ist, dass er einen großen Spagat machen muss von der konservativen Szene des Bauerntums zur linken Szene, wo sein Herz eigentlich ist."
    Zu Besuch bei Burcu Coskun, Perkussionistin in Wien. Sie spielt in Hans Breuers Ensemble "Wanderer".

    "Also er bringt Bauernlieder oder Schäferlieder in der linken Szene rein und vom Land und erzählt über die Natur und so. Und gleichzeitig bringt er Lieder in der Bauernszene rein, die komplett links sind. Wie man die Welt besser zu gestalten hat, ich weiß nicht, antiimperialistisch quasi, ja?"
    In seiner Musik "durchwandert" Hans Breuer die türkische, griechische und jüdische Kultur. Dass er selbst Jude ist und sein will – wenn auch kein religiöser – wird ihm erst klar, als er längst erwachsen ist. Zufällig hört er ein jiddisches Lied. Wie bei einem Offenbarungserlebnis bringen Sprache und Melodie alle jüdischen Saiten in ihm zum Klingen. Hat der Vater sie unbewusst gespannt? Nach und nach gewinnt Hans Breuers jüdisches Erbe für ihn an Bedeutung.

    "Nachdem sich ja die kommunistische Bewegung zerbröselt hat, gerade als ich vom Kind zum Jugendlichen gekommen bin... es war ja da nichts da, was in mir diesen Auftrag ersetzen konnte. ..Und da hat's irgendwie so klick gemacht. Das war sicher ein längerer Prozess, der hat begonnen mit diesem starken Drang nach dieser Musik. Der war für mich eine Botschaft drinnen. Eine Botschaft von irgendwelchen Vorvätern. Sprache des Herzens."
    Wo seine Vorväter ausgelöscht wurden, will der Schäfer als Jude präsent sein. Eine Station seiner Route ist das hübsche Städtchen Judenburg.

    Blickt man auf diesen Ort in der Südsteiermark, scheint Hans Breuers Erinnerungshilfe dringend benötigt. In Judenburg selbst nämlich nimmt man es mit der historischen Wahrheit nicht so genau. Historiker führen den Ortsnamen auf einen Markt jüdischer Fernhändler im Mittelalter zurück. Auch das Stadtwappen deutet auf eine jüdische Geschichte hin. Eine Umfrage zeigt, dass viele Judenburger allerdings etwas ganz anderes über ihr Stadtwappen gelernt haben.

    Buchhändlerin: "War da net mal ein Schlossherr oder so?"

    Passant: "Vom Judin von Eppenstein kommt des. Der war der Stadtbegründer. Dessen Burg da am unteren Ende der Straße liegt."
    Nach 1938 sollte in Judenburg bewusst alles Jüdische ausgemerzt werden. Die These über den feudalen Stadtbegründer ist inzwischen längst widerlegt. In den Köpfen hält sie sich aber hartnäckig. Ebenso wie jene mündliche Überlieferung, nach der die rund fünfzig jüdischen Einwohner Ende der 30er-Jahre freiwillig von Judenburg wegzogen. Tatsächlich wurden sie vertrieben oder verschleppt, fast alle ermordet. Keine Gedenktafel erinnert an ihr Schicksal. Nur Hans Breuer auf seine Weise
    Es liegen Lügen wie Blei über der Stadt.
    Hans Breuer zieht weiter. Der Stau hat sich aufgelöst, die Herde ist im Nachtpferch angekommen. Das Team übernachtet heute bei Marianne und Erwin Rauch. In ihrer Küche tischt Marianne Rauch selbst gebackenes Brot und hausgemachten Käse auf. Die naturnahe Lebensweise bringt die Bauern und den Wanderschäfer zusammen. Die Härten, die Hans Breuer auf sich nimmt, verschaffen ihm Respekt – und man begegnet sich über die Musik.

    Hans Breuer lebt bewusst ein Leben fernab der Konsumwelt. Dies ist e i n Grund dafür, dass er seit 30 Jahren Schäfer ist.

    "Aber ich glaub, es ist auch eine Sehnsucht, die in ganz vielen Menschen steckt, so eine alte Sehnsucht. Auf jeden Fall hat so eine große Herde eine ganz starke emotionale Wirkung auf Menschen. Es kommt ganz oft vor, dass Leute mitten auf der Straße ihr Auto abstellen, die Türen öffnen und offen lassen, aussteigen, die Augen weit aufgerissen. Oh – und staunen. ... So stark wirkt die Herde auf Frauen, Männer, erwachsene, junge, quer durch. Und ich bin halt einer, der sich dem voll hingibt."

    Infos:
    www.hansbreuer.com