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Sinnenliebe im Venusberg

Das Reich reiner Konsumtion hält keiner aus. Der erotische Schlaraffenlandterror Tannhäuser verlangt nach anderem. Wagner hat es komponiert. Die romantische Oper Richard Wagners bietet schon im Vorspiel skandalös ekstatische Musik. In Frankfurt hat die junge Regisseurin Vera Nemirova den der Sinnenliebe überdrüssigen "Tannhäuser" inszeniert und ihn Erlösung in anderen Gefilden suchen und finden lassen.

Von Wolf-Dieter Peter |
    Pilgerzüge um Altötting, Köln, Rom oder auf dem Jakobsweg, spirituelle Sinnsuche in religiösen Gemeinschaftsritualen in Mekka, Rom oder auf Sektenfarmen einerseits, andererseits rauschhafte Ich-Entgrenzung durch Klangextasen, weiter gesteigert durch Rauschmittel und enthemmte Sexualität: All dies ist nur Stoff einer mittelalterlichen Märchenstunde in Form einer "großen romantischen Oper" von 1845. Verständlich, dass die 34-jährige Vera Nemirova als wache Künstlerin alle heutigen Parallelen spürt, sieht - und inszeniert.

    Vera Nemirovas Tannhäuser ist ein durch "Sex 'n' Drugs 'n' Rock 'n' Roll" hindurch gegangener Leadsänger in schwarzer Lederkluft - was der hünenhafte Schotte Ian Storey glaubhaft verkörpert. Die Zeit mit Venus, einem gertenschlanken blonden Girlie-Gift a la Aguilera, Anastacia oder Madonna, endet gerade in schalem Überdruss. Wie heutige Aussteiger sucht Tannhäuser neues, authentisches Leben in Wald und Natur, auch in den einfachen Dingen, die der kleine Hirtenjunge mit seinen Hüpfspielen in Kreufrom zeigt. Nur trifft Tannhäuser fatalerweise auf die ohne ihn zur "Combo" für banale Eventkultur verkommenen früheren Mitsänger, eine sich überschätzende Neuauflage der "Comedian Harmonists". Das Sängerfest ist zur Selbstfeier eines gemischten Großchores geworden - Catering-Service, kecke Hostessen, Fernsehübertragung - alles gesponsert von einer Brauerei.

    Elisabeth tritt als glutvolle, liebesbereite Frau aus dem Parkett auf, verklärt den hellen Zuschauerraum und dann die Bühne zur "teuren Halle". Sie begleitet die Sänger auf der Harfe und akzeptiert sowohl Wolframs idealistischen Eros wie Tannhäusers diesseitigen Sexus - was in Eklat und Handgreiflichkeiten endet - Ende der Fernsehübertragung.

    Elisabeths Beschwörung von "Gnade" und "Verzeihung" ruft die verlogenen Männer zu Trägern christlich-bürgerlicher Werte auf - und zur Abschiebelösung "Nach Rom!". Sie können derartige Frauen-Power nur akzeptieren, indem sie Elisabeth mit weißem Tuch zur Heiligenfigur verkleiden und verklären. Als aggressiver Keil formieren die Männer sich gegen Tannhäuser, zusätzlich gepanzert durch die hereingerufenen Pilger in ihren ärmlichen Wandermonturen.

    Diese aus der Sicht der Arrivierten "armen Irren" hat Regisseurin Nemirova als wichtige weitere Ebene etabliert. Der bühnenfüllende Bewegungschor spielt zur Ouvertüre eine erweckungsfreudige Menschenschar, die erst an einem Kreuz Heil und Erlösung sucht, dann in einem kollektiven Tauf-Tauchbad - und in fleischfarbenen Wäsche dann zu den Klängen der Venus-Welt ein kollektives "Love-In" mit Woodstock-Zügen veranstaltet. Diese Pilgerschar liegt zur düsteren Klagemusik des 3. Aufzugs als Prekariat und neue Unterschicht im öden, leeren Raum. Elisabeth betreut sie, hat die Lederjacke Tannhäusers für sich gerettet, wirkt aber nach Tannhäusers Ausbleiben zerstört.

    Hier kommt Nemirovas dritte Interpretationsebene zum Tragen: Wolfram hat Tannhäuser bewundert, hatte dessen Rolle ein wenig übernommen, ohne dies kreativ wie nervlich zu leisten. Im Sängerwettstreit hatte er in einem neurotischen Anfall von Selbstüberschätzung Elisabeth zu gewinnen gesucht. Ihm unerträglich erlebt er sie nun entwürdigt und kaputt. Parallel zur "Todesahnung" des Textes und in jenem gefährlich stillen "Wir töten, was wir lieben" nimmt Wolfram Elisabeth in die Arme und erwürgt sie. Tannhäusers Rom-Erzählung erlebt er als Vision seines kommenden Weges, zieht dessen dreckiges Pilgertuch über und wankt davon.

    Tannhäuser und der Hirtenjunge gehen ins Licht - wohin, bleibt offen.
    Der Abend gehörte der szenischen Neuinterpretation - auch weil GMD Paolo Carignani desinteressiert und folglich profillos wirkte. Die Sänger des Frankfurter Ensembles klangen solide. Danielle Halbwachs Elisabeth verstrahlte Wärme und Glut. Ian Storeys Tannhäuser sparte zweieinhalb Akte lang auf die strapaziöse Rom-Erzählung hin. So hieß der Abend "Wolfram von Eschenbach". Die Prognose sei gewagt: Christian Gerhahers Weltkarrierebeginn. Faszinierende Textbehandlung, hochexpressiver Gesang, beseelte Verinnerlichung und neurotische Zerrissenheit - ein Rollendebüt auf singulärem Niveau - Gänsehaut - und dann Jubel.