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So singe, Held!

Das Jahr 1998 brachte genügend aufregende Titel für die Wagner-Gemeinde. Familiengeschichten à la Nike Wagner und Renate Schostack machten mehr als deutlich, warum Richard Wagner, bevor er seine Familienstätte "Wahnfried" nannte, er sie "Ärgersheim" nennen wollte .Und natürlich hat auch die Computerwelt Richard Wagner längst eingeholt. Das Bühnenfestspiel "Der Ring des Nibelungen" als interaktives Computerspiel - wer wollte nicht schon immer mit dem listigen Lümmel Loge die Riesen Fafner und Fasolt austricksen , oder mit der Maus Nothung, das niedliche Schwert aus dem Baume ziehen.

Matthias Sträßner |
    Wem all das zu modern ist, der hat noch eine andere Möglichkeit, sich Wagner zu nähern. Durch ein Buch von Einhard Luther nämlich über Wagnertenöre der Wagnerzeit. Der Titel lautet "So singe, Held! Biographie eines Stimmfaches." Und der voluminöse Band im ansehnlichen Format einer Langspielplatte wartet mit einer kleinen Überraschung auf: immerhin 4 Minuten Original-Ton vom Beginn des Jahrhunderts.

    Kennen Sie, sehr geehrte Hörer, das Gefühl, in einer Gesellschaft von Whisky-Kennern zu sein. Und einer Diskussion unter Kennern zu lauschen, bei dem es ständig um das nosing und den Abgang geht? Um die subtilsten Differenzierungen der Geschmacksnoten, die man in dem edlen Getränk ausmachen will: ist da nicht ein bißchen Torf, Jod oder Honig, ein Quentchen Mandel, Heidekraut oder gar Zitrusfrucht? Nicht anders fühlt man sich in Gesellschaft von Experten des Gesangs: nur geht es jetzt plötzlich um den Reichtum an Obertönen, um nasalen Vordersitz, Gaumenspannung, und natürlich das Zwerchfell nicht zu vergessen - und das alles ja nur, um zu erklären, warum einem der Klang eines Tenors oder eines Soprans auf der Bühne nun gefällt oder nicht.

    Wenn Sie aber nun einmal nicht zu denen gehören, denen neben Kurzschuljahren auch ein paar Jahre Gesangsstunden geschenkt wurden, fangen wir ganz einfach von vorne an, und fragen: Was versteht man unter einem Heldentenor? Da wir die Definition nicht liefern können, versuchen wir es mit einem Vergleich aus der Baukunst: der Heldentenor des deutschen Fachs huldigt nicht der Scheinarchitektur der Stimme. Er verläßt sich im wesentlichen nur auf die Bruststimme, er steht zu seinem Ton. Was daraus folgt: der Stimmumfang ist in der Regel kleiner, die Zahl und Farbe der Stimmregister eingeschränkt. Dafür aber ist die Durchschlagskraft, ein teutonisches Wort, um so größer. In der Tat ist die Verwandtschaft dieses Stimmfachs mit dem Bariton extrem hoch.

    Womit wir schon mitten drin sind in dem Buch "So singe Held!" von Einhard Luther. Hermann Winkelmann, der ersten Parsifal 1882 in Bayreuth, ist, so teilt uns Luther mit, der "erste Tenor, der eine Aufnahme aus seiner Bayreuther Partie hinterlassen hat". Einhard Luther gilt als ausgewiesener Kenner der Gesangsgeschichte und der Geschichte der Gesangstechnik, und es gibt eine Fülle historischer Aufnahmen, deren Beitexte auf Langspielplatten aus seiner Feder stammen. Trotzdem kommt man nicht darum herum, gleich zu Beginn auf den problematischen Ansatz dieses Buches zu verweisen. Schon bei anderen Büchern über Gesangskunst, so in dem Standardwerk von Jürgen Kesting , werden in der Regel nur Platten-Aufnahmen besprochen. Schon das ist gegenüber der Bühnenpräsenz, die ja mit über die Sängerpersönlichkeit entscheidet, eine häufig sträfliche Vereinfachung. Um wieviel mehr aber gilt das für eine durchaus wertende historische Auflistung von Wagner-Tenören, deren Qualität man sich aus Beschreibungen Dritter zusammenreimen muß. Nicht nur, daß erzählte hohe "C"s bekanntlich noch weniger nahrhaft sind als das berühmte erzählte Mittagsessen. Noch stärker zählt der Einwand: Woher soll denn die Vergleichbarkeit der Urteile kommen, und stammten sie auch von Richard Wagner oder von den Dirigenten der ersten Aufführungen selbst. Wer sich einmal mit mehr als fünf Gesangslehrern unterhalten hat, weiß es zu genüge: es gibt für Gesangstechnik keine einheitliche Sprache, und es hat sie nie gegeben.

    Dies vorausgeschickt, und gleich auch hinzugefügt, daß Einhard Luther wirklich zu sehr den peniblen "Merker" der Aufführungs-Geschichte spielt und uns wirklich jeden Tenor jeder Landesbühne hinter den Kulissen hervorzuziehen scheint, so hat das Buch für Wagner-Interessierte trotzdem seine positiven und aufschlußreichen Seiten. Das hat damit zu tun, daß sein Buch über Wagnertenöre, sowohl eine interessante Phase des Wagnertheaters vor Bayreuth skizziert, als auch eine interessante Phase nach Bayreuth. Die Festspielgeschichte, die zu Bayreuth hinführt, ist vor allem an der wegbereitenden Politik sogenannter "Musteraufführungen" festzumachen. Und die Geschichte des Wagnertheaters nach Bayreuth wird immer auch den Blick auf die Bekehrungs-, ja Missionstourneen, lenken müßen, heute würde man sagen auf die "promotion tours", die zum Beispiel das Richard-Wagner-Theater eines Angelo Neumann durchgeführt hat. Und bei diesen kunstpolitisch hoch sensiblen Unternehmungen spielten Besetzungsfragen, und dies gerade im Heldentenorfach, in der Tat eine große Rolle.

    Schon vor Richard Wagner gab es zwei Persönlichkeiten, die sich mit analogen Festspielkonzeptionen beschäftigten: Karl Immermann und Franz von Dingelstedt, die in Düsseldorf (1832-37) beziehungsweise in München (1854) Musteraufführungen zu realisieren versuchten, die Festspielcharakter hatten . Schon diese beiden Männer hatten erkannt, daß der größte Feind des Theaters die "Alltäglichkeit" des Repertoiretheaters ist. Dies war zu einer Zeit geäußert, als das Theater - zumindest in Preußen - noch der Gewerbeordnung eingegliedert war, nicht etwa dem Kulturministerium unterstellt war, und somit den Intendanten nichts anderes übrig blieb, als Leichtverdauliches zur Normkost der Theatergänger zu machen. Solange Richard Wagner noch nicht Bayreuth vor Augen hatte, beziehungsweise ernsthafte Zweifel an der finanziellen Durchsetzbarkeit seiner Bayreuth-Utopie haben mußte, versuchte er zunächst den Weg von Musteraufführungen seiner Werke zu gehen. Wie er dabei auch die Sänger zusammenstellt, ist bei Luther spannend zu lesen.

    Und auch mit den Festspielen in Bayreuth war Wagner noch längst nicht etabliert. Es bedurfte der besonderen Arbeit seiner Wagner-Apostel, um das Evangelium des Meisters unters Volk zu bringen, der Wagner-Vereine und der Wagner-Dirigenten. Einer davon war Angelo Neumann, der mit seinem "Richard-Wagner-Theater" quer durch Europa tourte, und den "Ring der Nibelungen" unter der Leitung von Carl Muck sogar nach Petersburg und Moskau exportierte. Ganz zu Recht stellt Einhard Luther fest, daß durch die Hände von Angelo Neumann "die wichtigsten Heldentenöre der Nach-Wagnerzeit gegangen sind und diese Inszenierungen für die Entwicklung des Stimmfachs wichtiger waren als die Bayruether Festspiele von 1876 und 1882.

    Klar ist auch, daß ein so nostalgisches Buch des Wagner-Gesangs seine klaren Feindbilder hat. Die heißen, wie nicht anders zu erwarten, modernes Regietheater, moderner Jetset, und die Einseitigkeit der sängerischen Beanspruchung. Das ist alles sehr konservativ, immer auch ein bißchen richtig, aber gerade mit den Klangbeispielen Luthers im Ohr will die rechte Überzeugung nicht aufkommen.