Burkhard Müller-Ullrich: Einem Gesetzentwurf des Bundesinnenministeriums zufolge soll das Bundeskriminalamt jedermanns Computer bis zu drei Tage lang heimlich ausspionieren dürfen, ohne dass die Justiz ihre Zustimmung geben muss. Die Debatte um diese sogenannten Online-Durchsuchungen schlägt hohe Wellen.
Vor ein paar Tagen erschien eine Streitschrift des Soziologen Wolfgang Sofsky mit dem Titel "Verteidigung des Privaten". Darin geht es genau um die Gefährdungen der Freiheit durch die immer stärker werdende Überwachung des Einzelnen. Herr Sofsky, befinden wir uns wirklich auf dem Weg in einen neuen Totalitarismus?
Wolfgang Sofsky: Es hängt ein bisschen davon ab, wie man Totalitarismus definiert. Aber wir sind im Begriff, die staatliche Überwachung von Privatpersonen in einer rapiden Weise und in einer gefährlichen Weise auszudehnen. Es scheint zunächst vor allem gar nicht so sehr mit Gewalttätigkeit und erkennbaren Übergriffen vor sich zu gehen, wie wir das bei Totalitarismus eigentlich sonst kennen, sondern es ist eine sehr sanfte Weise. Wir sollen ja eigentlich gar nichts davon bemerken, wenn wir ausgeforscht werden.
Müller-Ullrich: Das geschieht ja zu unserem Schutz.
Sofsky: Ja, daran glauben ja viele Menschen. Das ist eine sehr verwickelte Argumentation, denn man muss zunächst mal sagen, wer sich wovor schützt. Zunächst schützt sich die politische Elite vor dem möglichen Vorwurf, sie hätte für einen Ernstfall nicht das Nötige getan, sie schützt sich sozusagen vor dem politischen Tod. Denn wenn das herauskäme, dann würde sie einfach abgewählt werden, und dann wäre sie ihren Job los. Das ist die Sorge, die ängstliche Politiker um ihren Beruf haben, sozusagen ihr Berufsrisiko. Zweitens denken natürlich viele Menschen, dass, wenn jedermann, der irgendwann ein Verbrechen begehen könnte, vorzeitig kontrolliert würde, würden keine Verbrechen mehr stattfinden. Das ist unsere Präventionsmentalität, und da kann ich nur sagen: Vorsorge ist uferlos. Denn es wird immer wieder neue Taten geben, mit denen wir nie gerechnet haben. Und wir können uns alles Mögliche ausdenken, was geschehen könnte, und dann sind wir am Schluss so zugeschnürt in unserer Lebensführung, dass wir vor lauter Schutz uns nicht mehr bewegen können.
Müller-Ullrich: Herr Sofsky, die Privatheit, die Sie ja in Ihrem neuen Buch so engagiert und energisch verteidigen, hat ja selbst eine Geschichte, sodass ich zunächst einmal vielleicht ein bisschen zurücktreten möchte von der aktuellen Debatte, hier Gefährdungspotenzial und staatliches Risikopotenzial, sondern einfach mal zurückgehen: Die Privatheit ist keine Konstante in der Geschichte. Der Mensch ist mit ihr erst im Laufe des 19. Jahrhunderts im Grunde groß geworden, vorher brauchte er sie nicht so sehr.
Sofsky: Das würde ich überhaupt nicht sagen. Ich halte Privatheit, wie immer man das nennt, dieses Phänomen, für eine anthropologisch universale Angelegenheit. Nämlich die Differenzierung zwischen Ereignissen, Tätigkeiten, Angelegenheiten, die Menschen alleine betreffen und die nicht für fremde Augen und Ohren bestimmt sind. Man kennt sogar aus ganz archaischen Wildbeuter-Gesellschaften: Wenn da ein Paar Sex machen wollte, zog es sich zurück in den Busch. Es gab sogar etwas wie Paralleldörfer, wohin man sich zurückzog, um vor der Öffentlichkeit im Dorf geschützt zu sein. Die Unterscheidung zwischen dem, was nur einen selbst betrifft oder die unmittelbaren Angehörigen betrifft, und dem, was für fremde Augen und Ohren bestimmt sein kann, das ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das finden Sie im alten Rom, das finden Sie in der Renaissance und wie gesagt auch in ganz archaischen Gesellschaften. Das sind elementare Grenzziehungen, die Menschen und Gruppen immer gemacht haben.
Müller-Ullrich: Nun spielt eine technische Entwicklung hinein, ganz unabhängig von den bösen Absichten möglicherweise eines totalitären Staates. Die technische Entwicklung bewirkt, dass wir mittlerweile Kameras fast überall haben, sie auch über das Internet überall anschalten können. Das heißt, wenn so viel Öffentlichkeit da ist, dann dreht sich möglicherweise die ganze Geschichte um, das heißt, auf dieselbe Weise kann man ja auch die Kontrolleure kontrollieren.
Sofsky: Wenn es gelänge, in die Computer des Bundeskriminalamtes hineinzukommen, wenn es gelänge, in die Computer der Ministereien hineinzukommen - es gab ja übrigens die Meldung, dass hier chinesische Spione sehr findig gewesen sein sollen -, dann mag man es umdrehen, aber ich glaube trotzdem nicht, dass es sozusagen ein Gleichgewicht der Überwachung gäbe, obwohl ich sehr dafür bin, zumal in Demokratien ja das Prinzip der Kontrolle gilt, dass man auch die Beobachter beobachtet, das heißt auch diejenigen, die meinen, sie müssten unser Leben überwachen und regulieren, zum Objekt der Beobachtung durch die Bevölkerung macht, und zwar nicht in dem Sinne, dass man ihr Privatleben ausforscht, das ist eigentlich völlig uninteressant und belanglos, sondern dass man sehr genau kontrolliert, was sie für Pläne haben, welche Entscheidungen vorbereitet werden und dass man rechtzeitig interveniert, wenn man der Meinung ist, dass das in eine völlig falsche Richtung geht.
Müller-Ullrich: Was ist das exakte Risiko bei diesem zunehmenden Verlust von Privatheit für das Subjekt? Wie sieht die Deformation eines restlos ausgespähten Ichs aus?
Sofsky: Nun, Sie stehen morgens auf und sind nicht ganz sicher, ob sie, wenn Sie ins Badezimmer gehen, nicht irgendwo eine Wanze in der Wohnung installiert haben, so dass jeder schon weiß, wann Sie aufgestanden sind. Sie gehen vor die Tür, jeder Weg, den Sie in der Privatwohnung oder in einem öffentlichen Raum, diese Trennung wäre dann im Übrigen ja auch schon völlig aufgehoben, alles wäre öffentlich, wohin Sie sich bewegen, es könnte genau rekonstruiert werden. Es kann rekonstruiert werden, welche Dinge Sie gekauft haben, wem Sie die Dinge weitergegeben haben. Jede Kaufaktion - und sei es nur eine Tüte Milch - kann dokumentiert werden und wird dann sicherlich auch ein paar Monate archiviert. Man kann sehen, welche Vorlieben jemand hat, was er isst, was er trinkt, wen er trifft, mit wem er Briefe wechselt, welches geheime Leben er womöglich noch führt, falls er eine Affäre irgendwo hat, wie er arbeitet, ob er genau nach Standards arbeitet oder ob es da Abweichungen gibt, wie fleißig er ist, und wann er wieder ins Bett geht. Also sein Tag rund um die Uhr wäre für fremde Augen und Ohren offen.
Müller-Ullrich: Und was würden Sie sagen, wenn jetzt ein postmodern entwickeltes Individuum sagen würde, das macht mir alles nichts, warum tickt der falsch?
Sofsky: Ich meine, es ist natürlich jemandem völlig unbenommen, alles, was ihn selber betrifft, öffentlich darzustellen, solange er nicht jemand anderen zu nahe tritt und ihn wider dessen Willen beschämt oder auch beschädigt. Auch das postmoderne Individuum hat selbstverständlich die Freiheit, sich auf den Marktplatz zu stellen, die Klamotten auszuziehen, irgendeine dümmliche Rede zu halten und dann ins nächste Café zu gehen. Er wird wahrscheinlich früher oder später von irgendwelchen Ordnungskräften, sie werden ihm die Hand auf die Schulter legen, oder es kommt auch mal ein Psychiater vorbei. Das wäre ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung.
Ich glaube, auch wer das sozusagen als provokante Aktion mal treiben würde, um einfach mal auszutesten, was kann man exhibitionistisch alles so machen, ich könnte mir vorstellen, wenn er überhaupt noch ein Verhältnis zu sich selber hat, wird ihn nach getaner Provokation vielleicht doch mal so ein leises Gefühl der Scham beschleichen. Oder wenn er drei Jahre älter ist, greift er sich auch an den Kopf und fragt, was habe ich denn damals gemacht? Wer kein Verhältnis zu sich selber mehr hat, wo sozusagen ich und Ich-Ideal zusammenfallen, wer auch überhaupt keine weiteren Ansprüche mehr an sich hat und wer auch verlernt hat, dass er auch mal rote Ohren bekommt, der hat damit überhaupt kein Problem. Das wäre allerdings sozusagen eine psychische Konstellation, wo man sich fragen würde, ob man das jemanden wünschen sollte.
Müller-Ullrich: Das war der Soziologe Wolfrang Sofsky, Autor des Buches "Verteidigung des Privaten", das gerade im Verlag C. H. Beck erschienen ist.
Vor ein paar Tagen erschien eine Streitschrift des Soziologen Wolfgang Sofsky mit dem Titel "Verteidigung des Privaten". Darin geht es genau um die Gefährdungen der Freiheit durch die immer stärker werdende Überwachung des Einzelnen. Herr Sofsky, befinden wir uns wirklich auf dem Weg in einen neuen Totalitarismus?
Wolfgang Sofsky: Es hängt ein bisschen davon ab, wie man Totalitarismus definiert. Aber wir sind im Begriff, die staatliche Überwachung von Privatpersonen in einer rapiden Weise und in einer gefährlichen Weise auszudehnen. Es scheint zunächst vor allem gar nicht so sehr mit Gewalttätigkeit und erkennbaren Übergriffen vor sich zu gehen, wie wir das bei Totalitarismus eigentlich sonst kennen, sondern es ist eine sehr sanfte Weise. Wir sollen ja eigentlich gar nichts davon bemerken, wenn wir ausgeforscht werden.
Müller-Ullrich: Das geschieht ja zu unserem Schutz.
Sofsky: Ja, daran glauben ja viele Menschen. Das ist eine sehr verwickelte Argumentation, denn man muss zunächst mal sagen, wer sich wovor schützt. Zunächst schützt sich die politische Elite vor dem möglichen Vorwurf, sie hätte für einen Ernstfall nicht das Nötige getan, sie schützt sich sozusagen vor dem politischen Tod. Denn wenn das herauskäme, dann würde sie einfach abgewählt werden, und dann wäre sie ihren Job los. Das ist die Sorge, die ängstliche Politiker um ihren Beruf haben, sozusagen ihr Berufsrisiko. Zweitens denken natürlich viele Menschen, dass, wenn jedermann, der irgendwann ein Verbrechen begehen könnte, vorzeitig kontrolliert würde, würden keine Verbrechen mehr stattfinden. Das ist unsere Präventionsmentalität, und da kann ich nur sagen: Vorsorge ist uferlos. Denn es wird immer wieder neue Taten geben, mit denen wir nie gerechnet haben. Und wir können uns alles Mögliche ausdenken, was geschehen könnte, und dann sind wir am Schluss so zugeschnürt in unserer Lebensführung, dass wir vor lauter Schutz uns nicht mehr bewegen können.
Müller-Ullrich: Herr Sofsky, die Privatheit, die Sie ja in Ihrem neuen Buch so engagiert und energisch verteidigen, hat ja selbst eine Geschichte, sodass ich zunächst einmal vielleicht ein bisschen zurücktreten möchte von der aktuellen Debatte, hier Gefährdungspotenzial und staatliches Risikopotenzial, sondern einfach mal zurückgehen: Die Privatheit ist keine Konstante in der Geschichte. Der Mensch ist mit ihr erst im Laufe des 19. Jahrhunderts im Grunde groß geworden, vorher brauchte er sie nicht so sehr.
Sofsky: Das würde ich überhaupt nicht sagen. Ich halte Privatheit, wie immer man das nennt, dieses Phänomen, für eine anthropologisch universale Angelegenheit. Nämlich die Differenzierung zwischen Ereignissen, Tätigkeiten, Angelegenheiten, die Menschen alleine betreffen und die nicht für fremde Augen und Ohren bestimmt sind. Man kennt sogar aus ganz archaischen Wildbeuter-Gesellschaften: Wenn da ein Paar Sex machen wollte, zog es sich zurück in den Busch. Es gab sogar etwas wie Paralleldörfer, wohin man sich zurückzog, um vor der Öffentlichkeit im Dorf geschützt zu sein. Die Unterscheidung zwischen dem, was nur einen selbst betrifft oder die unmittelbaren Angehörigen betrifft, und dem, was für fremde Augen und Ohren bestimmt sein kann, das ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das finden Sie im alten Rom, das finden Sie in der Renaissance und wie gesagt auch in ganz archaischen Gesellschaften. Das sind elementare Grenzziehungen, die Menschen und Gruppen immer gemacht haben.
Müller-Ullrich: Nun spielt eine technische Entwicklung hinein, ganz unabhängig von den bösen Absichten möglicherweise eines totalitären Staates. Die technische Entwicklung bewirkt, dass wir mittlerweile Kameras fast überall haben, sie auch über das Internet überall anschalten können. Das heißt, wenn so viel Öffentlichkeit da ist, dann dreht sich möglicherweise die ganze Geschichte um, das heißt, auf dieselbe Weise kann man ja auch die Kontrolleure kontrollieren.
Sofsky: Wenn es gelänge, in die Computer des Bundeskriminalamtes hineinzukommen, wenn es gelänge, in die Computer der Ministereien hineinzukommen - es gab ja übrigens die Meldung, dass hier chinesische Spione sehr findig gewesen sein sollen -, dann mag man es umdrehen, aber ich glaube trotzdem nicht, dass es sozusagen ein Gleichgewicht der Überwachung gäbe, obwohl ich sehr dafür bin, zumal in Demokratien ja das Prinzip der Kontrolle gilt, dass man auch die Beobachter beobachtet, das heißt auch diejenigen, die meinen, sie müssten unser Leben überwachen und regulieren, zum Objekt der Beobachtung durch die Bevölkerung macht, und zwar nicht in dem Sinne, dass man ihr Privatleben ausforscht, das ist eigentlich völlig uninteressant und belanglos, sondern dass man sehr genau kontrolliert, was sie für Pläne haben, welche Entscheidungen vorbereitet werden und dass man rechtzeitig interveniert, wenn man der Meinung ist, dass das in eine völlig falsche Richtung geht.
Müller-Ullrich: Was ist das exakte Risiko bei diesem zunehmenden Verlust von Privatheit für das Subjekt? Wie sieht die Deformation eines restlos ausgespähten Ichs aus?
Sofsky: Nun, Sie stehen morgens auf und sind nicht ganz sicher, ob sie, wenn Sie ins Badezimmer gehen, nicht irgendwo eine Wanze in der Wohnung installiert haben, so dass jeder schon weiß, wann Sie aufgestanden sind. Sie gehen vor die Tür, jeder Weg, den Sie in der Privatwohnung oder in einem öffentlichen Raum, diese Trennung wäre dann im Übrigen ja auch schon völlig aufgehoben, alles wäre öffentlich, wohin Sie sich bewegen, es könnte genau rekonstruiert werden. Es kann rekonstruiert werden, welche Dinge Sie gekauft haben, wem Sie die Dinge weitergegeben haben. Jede Kaufaktion - und sei es nur eine Tüte Milch - kann dokumentiert werden und wird dann sicherlich auch ein paar Monate archiviert. Man kann sehen, welche Vorlieben jemand hat, was er isst, was er trinkt, wen er trifft, mit wem er Briefe wechselt, welches geheime Leben er womöglich noch führt, falls er eine Affäre irgendwo hat, wie er arbeitet, ob er genau nach Standards arbeitet oder ob es da Abweichungen gibt, wie fleißig er ist, und wann er wieder ins Bett geht. Also sein Tag rund um die Uhr wäre für fremde Augen und Ohren offen.
Müller-Ullrich: Und was würden Sie sagen, wenn jetzt ein postmodern entwickeltes Individuum sagen würde, das macht mir alles nichts, warum tickt der falsch?
Sofsky: Ich meine, es ist natürlich jemandem völlig unbenommen, alles, was ihn selber betrifft, öffentlich darzustellen, solange er nicht jemand anderen zu nahe tritt und ihn wider dessen Willen beschämt oder auch beschädigt. Auch das postmoderne Individuum hat selbstverständlich die Freiheit, sich auf den Marktplatz zu stellen, die Klamotten auszuziehen, irgendeine dümmliche Rede zu halten und dann ins nächste Café zu gehen. Er wird wahrscheinlich früher oder später von irgendwelchen Ordnungskräften, sie werden ihm die Hand auf die Schulter legen, oder es kommt auch mal ein Psychiater vorbei. Das wäre ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung.
Ich glaube, auch wer das sozusagen als provokante Aktion mal treiben würde, um einfach mal auszutesten, was kann man exhibitionistisch alles so machen, ich könnte mir vorstellen, wenn er überhaupt noch ein Verhältnis zu sich selber hat, wird ihn nach getaner Provokation vielleicht doch mal so ein leises Gefühl der Scham beschleichen. Oder wenn er drei Jahre älter ist, greift er sich auch an den Kopf und fragt, was habe ich denn damals gemacht? Wer kein Verhältnis zu sich selber mehr hat, wo sozusagen ich und Ich-Ideal zusammenfallen, wer auch überhaupt keine weiteren Ansprüche mehr an sich hat und wer auch verlernt hat, dass er auch mal rote Ohren bekommt, der hat damit überhaupt kein Problem. Das wäre allerdings sozusagen eine psychische Konstellation, wo man sich fragen würde, ob man das jemanden wünschen sollte.
Müller-Ullrich: Das war der Soziologe Wolfrang Sofsky, Autor des Buches "Verteidigung des Privaten", das gerade im Verlag C. H. Beck erschienen ist.