Samstag, 04. Mai 2024

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Soloalbum von Radiohead-Gitarrist Ed O'Brien
Ein Schritt runter vom Podest

Der Musiker Ed O'Brien ist sich sicher: "Wenn die Historiker mal auf unsere Geschichte zurückblicken, werden sie sagen: Mein Gott, was haben diese Leute nur getan?" Auf seinem Solodebüt "Earth" versucht sich der Radiohead-Gitarrist deshalb an Systemkritik, zu der man tanzen kann.

Von Robert Rotifer | 11.04.2020
Der Gitarrist Ed O'Brien steht 2018 auf der Bühne beim US-Tourauftakt seiner Band Radiohead in Chicago.
Mit 52 veröffentlicht Radiohead-Gitarrist Ed O'Brien sein erstes Soloalbum "Earth" (Imago Images / Daniel DeSlover)
Es war Anfang März, eine aus heutiger Sicht völlig andere Zeit, als ich Ed O'Brien im Büro seiner Londoner Plattenfirma gegenüber saß. Ganz aufgekratzt war er, konnte es nicht erwarten, mit seinem Soloprojekt EOB auf Tour zu gehen, und so wie früher einmal tief in das Konzerterlebnis einzutauchen.
"Ich freue mich schon wirklich drauf, da raus zu gehen und einmal nicht wie seit Jahren die letzte Band im Programm zu sein. Den ganzen Tag über andere Künstler zu treffen und mich von ihnen inspirieren zu lassen. Wenn man bei Radiohead spielt, kommt man um sechs Uhr abends angerollt, und verbringt die ganze Zeit in einer Blase. Ich erinnere mich an die Tage, als wir bei Festivals mit anderen Bands abhingen und gegenseitig unsere Effektgeräte verglichen. Es fühlt sich wie eine gute Zeit an, das wieder zu tun. Und eine wirklich wichtige Zeit."
"Die 90er waren sehr weiß und sehr männlich"
Ed O'Brien ist sich sehr bewusst, dass er trotz all seines Enthusiasmus' heute gewissermaßen ein Teil des Problems ist. Selbst eine dezidiert progressive Band wie Radiohead verkörpert letztendlich die Hegemonie der alten, weißen männlichen Gitarrenbands. Mit EOB will O'Brien einen Schritt runter von diesem Podest machen und sich in die unterhalb jener abgehobenen Herrscherkaste entstandene Vielfalt einordnen.
"Ich bin mit der Musik nicht mehr so verbunden wie noch vor dreißig Jahren. Es gibt jetzt so viele andere Genres. Aber in Hinblick darauf, wofür die Künstler stehen, fühlt sich das an wie ein goldenes Zeitalter. Damals in den Neunzigern war doch alles sehr weiß, sehr männlich und Band-orientiert. Wir haben alle den Britpop zelebriert, und da gab es wohl ein paar nette Songs. Aber sehen Sie sich an, wie jetzt die schwarze, britische Jugend repräsentiert wird, von Leuten wie Dave, Little Simz oder Stormzy. Das ist eine wesentlich breitere Gemeinschaft."
O'Briens Song "Shangri-La" wurde vom gleichnamigen anti-hierarchischen, pro-ökologischen Bereich am Rande des Glastonbury Festivals inspiriert, wo sich O'Brien 2017 gleich nach seinem großen Headliner-Konzert mit Radiohead in die anonyme tanzende Menge mischte.
"Ein Musiker zu sein, ist heute ein wichtigerer Job denn je"
"Ich dachte immer, Glastonbury wäre nur Spaß, aber jetzt verstehe ich, wie wichtig es ist. Ein Musiker zu sein, ist heute ein wichtigerer Job denn je. Wir haben eine Verantwortung, die Leute zusammenzubringen und diese Momente des Lichts, der Magie, der Schönheit und Verbundenheit zu kreieren."
Es bricht einem zwar das Herz, das zu sagen, aber weder Ed O'Brien noch wir werden diesen Sommer dergleichen erleben. Das diesjährige Glastonbury Festival wurde wie so viele andere längst abgesagt. Doch die auf O'Briens Album verewigte hippieske Botschaft eines gemeinsamen Neuanfangs klingt unter derzeitigen Umständen eigentlich bloß noch dringlicher.
"Wenn die Historiker einmal auf unsere Geschichte zurückblicken, werden sie sagen: Mein Gott, was haben diese Leute nur getan? Die erschufen ein ökonomisches System, das weder auf den Planeten noch auf die Menschen aufpasste. Und sie waren so arrogant, sich für super-aufgeklärte Wesen zu halten. Die Wahrheit könnte nicht weiter davon entfernt sein. Ich habe in meinem Leben das goldene Ticket gezogen, ein erfolgreicher Musiker zu sein. Und wenn ich schon spüre, wie schwer die Leute es haben! Wie oft habe ich schon in den besten Hotels übernachtet, und wenn man um sich herum blickt, sieht man nur todunglückliche Leute? Dieses System funktioniert nicht."
Die in der Musik von Ed O'Brien reflektierte Systemkritik wird bis auf kurze Ausbrüche kaum zornig. Sie bereist vielmehr, wie schon am etwas megalomanischen Albumtitel "Earth" zu erahnen, die esoterisch euphorischen Regionen des Radiohead-Kosmos. Sogar tanzen kann man dazu, wenn auch nur unter dem unfreien Himmel des Eigenheims.