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Sorgenkind EU

Die Europäische Union ist in ihren Grundfesten erschüttert, die gescheiterten Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über eine europäische Verfassung haben die EU in ihre vielelicht schwerste Krise gestürzt. Und die wird sich nicht einfach aussitzen lassen. Zu tief gehen die Zweifel an Sinn und Zweck der europäischen Integration bei Bürgern und nationalen Politikern.

Von Cai Rienäcker |
    "Ein Schiff in hoher See und großem Sturm ohne genauen Kurs, Kapitän nicht anwesend, Steuermann noch unbekannt, Mannschaft aufgeregt." - "Die Europäische Union ist in einer Krise, die schwieriger ist, als die meisten wahrnehmen" - "Das war ganz klar eine rote Linie." - "Das ist eine Krise, weil keine Führung vorhanden ist." - "Europa ist eine Kopfgeburt." - "Warum brauchen wir Europa? Wofür wollen wir Europa wie weiter aufbauen?"

    Viele Fragen und Zweifel nagen seit Monaten an den Europapolitikern in Brüssel und Straßburg. Die gescheiterten Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden über eine europäische Verfassung haben die Europäische Union in ihre vielleicht schwerste Krise gestürzt.

    Das jahrelang, mit großem Aufwand vorbereitete Verfassungsprojekt gilt in der Öffentlichkeit erst einmal als gescheitert. Auch der letzte große Versuch, europäische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, scheiterte kläglich.

    Die vom luxemburgischen Regierungschef Jean-Claude Juncker fast verzweifelt geführten Verhandlungen über den Finanzrahmen 2007 bis 2013 endeten im Juni mit dem persönlichen Streit zwischen Großbritanniens Premier Tony Blair, dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder.

    Im Juli übernahm die britische Ratspräsidentschaft die Führung der EU. Blair hielt eine flammende Rede vor dem Europäischen Parlament. Seitdem herrscht Funkstille auf den wichtigsten europäischen Baustellen. Der Vorsitzende der CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Markus Ferber:

    "Der Schock ist sehr tief gegangen, den Frankreich und die Niederlande ausgelöst haben. Man hat sich aber jetzt in so ein geschäftsmäßiges Weiterwursteln im Prinzip hineingestürzt. Das heißt, man versucht die tagesaktuellen Probleme, die anstehen, abzuarbeiten. Textilstreit mit China, Iran-Atomwaffen, Handelsgespräche, die eh vorbereitet werden müssen.

    Kniffligere Dinge werden ja schon weggeschoben wie die finanzielle Vorausschau. Da hört man gar nichts mehr, obwohl das im Juni noch ein großes Thema war. Man ist zur Tagespolitik zurückgekehrt und ein bisschen sich gedrückt, große Antworten zu geben. Und das wird man dauerhaft so nicht durchhalten können."

    Doch die jetzige Krise der Europäischen Union wird sich nicht einfach aussitzen lassen. Zu tief gehen die Zweifel an Sinn und Zweck der europäischen Integration bei Bürgern und nationalen Politikern. Und selbst an der Spitze der EU zeigt sich Frustration. Der Vize-Präsident der Europäischen Kommission, Günter Verheugen:

    "Der Zustand ist schlecht. Die Europäische Union ist in einer Krise, die schwieriger ist als die meisten wahrnehmen, weil es nicht eine normale Krise ist. Wir haben das ja schon oft gehabt: Probleme zwischen den Mitgliedsstaaten, Probleme zwischen den Institutionen und sogar Probleme zwischen einzelnen führenden Personen. Aber was wir diesmal haben, ist etwas anderes. Im Herzen der EU selber, nämlich in den Gründerstaaten, dort ist es ja am stärksten zu sehen, breitet sich Skepsis aus, ob die ganze Richtung, die die europäische Integration nimmt, noch richtig ist."

    Die Europäische Union ist in ihren Grundfesten erschüttert. In der allgemeinen Ungewissheit über die wirtschaftliche Zukunft, über den Platz des einzelnen in der globalen Gesellschaft, ist auch das Vertrauen der Bürger in den europäischen Einigungsprozess verloren gegangen. Im Europäischen Parlament wie bei der EU-Kommission drängt man nun auf eine grundsätzliche Neuorientierung der europäischen Politik. Das schließt die Kritik an der eigenen Arbeit mit ein. EU-Kommissar Verheugen:

    "Ich glaube in der Tat, dass alle Institutionen angesprochen sind und dass auch die Kommission sich angesprochen fühlen muss. Der Vorwurf an die Kommission lautet ja nicht, dass sie zu wenig getan hat. Der Vorwurf an die Kommission lautet ja eher, dass sie zuviel tut.

    Ich glaube auch, dass eine Besinnung auf das Wesentliche notwendig ist und dass wir bei der Art und Weise der europäischen Gesetzgebung viel stärker auf die wirklichen Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger achten müssen und weniger auf das, was alle möglichen Interessenvertreter und Verbände ihnen hier dem Europäischen Parlament oder Europäischen Kommission erzählen. Ich glaube, dass wir auch insgesamt mit weniger Gesetzgebung und weniger Bürokratie auskommen."

    Der deutsche Kommissar gehört in Brüssel zu den Reformmotoren. Gerade hat er angekündigt, einen großen Teil der in der Schublade liegenden europäischen Gesetzesentwürfe aussortieren zu wollen, weil sie sich mit Dingen beschäftigen, die nicht unbedingt auf europäischer Ebene geregelt werden müssen. Gerade das Europäische Parlament leidet unter der bisherigen Gesetzesmaschinerie.

    Bis in die Nacht hinein werden während der Straßburger Plenarwochen Debatten geführt, die den Charakter von Zwiegesprächen zwischen dem zuständigen Kommissar und dem Parlamentsberichterstatter annehmen. Die elektronische Erfassung von Fischfangdaten, Emissionswerte von Rasenmähern, der Kabeljaubestand in der irischen See oder die Kartoffelstärkeerzeugung - ein Ballast, der den Blick auf das Wesentliche in Europa versperrt. Der SPD-Politiker Klaus Hänsch sitzt seit 26 Jahren im Europäischen Parlament. Er ist einer der erfahrensten deutschen Europapolitiker:

    "Wir müssen wegkommen von einem sich hin und wieder zeigenden, nicht immer, aber hin und wieder zeigenden Vereinheitlichungswahn in der Europäischen Union. Wir sind nicht mehr in einer Situation mit sechs oder zwölf Mitgliedsstaaten, auch nicht 15, sondern mit 25 und demnächst 27 Staaten. Und das heißt, es muss die Möglichkeit geben, dass es mehr nationale Spielräume gibt innerhalb eines weitgesteckten und weiter als bisher gesteckten europäischen Rahmens."

    Klaus Hänsch gehört zu den Politikern, die die Europäische Verfassung im eigens dazu einberufenen Konvent maßgeblich mit entwickelt haben. Dieses Vertragswerk sollte die Europäische Union eigentlich auf eine andere Arbeitsgrundlage stellen. Vereinfachte Entscheidungsverfahren, genauere Definitionen von dem, was europäisch geregelt werden muss und was nicht.

    Aber die von allen 25 EU-Regierungschefs unterschriebene Verfassung liegt nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden zurzeit irgendwo in der Wiedervorlage. "Denkpause" heißt die offizielle Bezeichnung, auf die man sich etwa im Europäischen Parlament geeinigt hat. Im dortigen Verfassungsausschuss denkt man über die Konsequenzen aus den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden nach. Der österreichische Grüne Johannes Voggenhuber leitet die Reflexionsgruppe und warnt vor einem Trugschluss:

    "Was uns unter allen Umständen gelingen muss, ist den Missbrauch des Nein zu verhindern. Wir wissen, dass es weder in Frankreich, noch in den Niederlanden ein Nein zum Verfassungsprozess war. Die juristische Seite ist, dass zwei Staaten nein gesagt haben, dass wir die Einstimmigkeit brauchen und derzeit gescheitert sind. Die demokratische Seite ist, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Europa, die Mehrheit der Staaten und der Bevölkerung diesem Verfassungsentwurf schon zugestimmt haben."

    Nun gibt es diejenigen, die die Verfassung unverändert lassen wollen. Ein Teil des Europäischen Parlaments und auch der europäischen Regierungschefs klammert sich an den vorher beschlossenen Fahrplan. Erst Ende nächsten Jahres soll demnach bilanziert werden. Der Europaparlamentarier Klaus Hänsch:

    "Wenn sich zeigt, dass fünf Staaten nein gesagt haben, dann ist die Verfassung gescheitert. Wenn es aber nur zwei oder drei sind, dann werden die Staats- und Regierungschefs, so ist die Vereinbarung, zu überlegen haben, wie es weiter geht. Und ich bin der festen Überzeugung, dann werden sie einen Weg finden können, der es den Neinsagern möglich macht, doch noch den Verfassungsvertrag zu akzeptieren."

    Diese für den gegenwärtigen Entwurf recht optimistische Sicht der Dinge geht von der Einsicht aus, dass es auf absehbare Zeit keine bessere europäische Verfassung geben kann. Alles oder nichts. Der grüne Verfassungsexperte Johannes Voggenhuber hält dieses Vorgehen nicht für den klügsten Weg:

    "Wenn wir die Wut der Bürger entzünden wollen, dann gehen wir einfach mit dem selben Text noch einmal hin und sagen: Seit ihr jetzt klüger geworden? Ich glaube eines ist unumgänglich, dass wir hinkommen und sagen: Wir sind klüger geworden. Wenn wir diese Prüfung nicht schaffen, dann haben wir verloren. Und dann haben wir für Generationen verloren."

    Voggenhuber schlägt deswegen ein Konsensmodell vor. Statt alles zu verlieren, sollten jetzt die Elemente der Verfassung gerettet werden, die bei der großen Mehrheit der Bürger konsensfähig sind. Etwa die Präambel, die Grundrechtecharta, die Stärkung demokratischer Beteiligung wie europäische Bürgerbegehren, die Vereinfachung der Entscheidungsprozesse im Ministerrat, vielleicht auch die Schaffung eines EU-Präsidenten und eines Außenministers - eine verschlankte Verfassung ohne den abschreckenden bürokratischen Anhang. EU-Parlaments-Vordenker Voggenhuber:

    "In so einem ersten Verfassungsvertrag könnte dann auch eine europäische Volksabstimmung verankert werden, die wir dann vielleicht am Ende dringend notwendig haben, wenn wir nicht wieder in diese peinliche Situation geraten wollen, den Bürgern zu sagen: Wir wollen zwar abstimmen, aber wir haben kein Instrument dafür."

    Die Europäische Union muss ihre Bürger wieder entdecken. Das ist die zentrale Lehre, die die meisten Europapolitiker aus der momentanen Krise ziehen. Lange Zeit war der direkte Draht zu den Menschen vernachlässigt worden. Die Sinnhaftigkeit der Europäischen Union wurde nur selten in Frage gestellt. Der europäische Zusammenschluss hat der Region nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer historischen Friedensphase verholfen.

    Konflikte um nationale Interessen zwischen Deutschland, Frankreich oder Großbritannien werden nicht mehr im Schützengraben ausgetragen, sondern in Brüsseler Ausschüssen, an Gipfel-Konferenztischen oder im Fernduell über die europäischen Massenmedien. Jahrzehntelang war die Idee von Europa auch mit mehr materiellem Wohlstand verbunden. Doch in der jetzigen wirtschaftlichen Strukturkrise großer Mitgliedsstaaten wie Deutschland, Frankreich oder Italien, im Zeichen der Globalisierung und der Zukunftsängste, ist dem Bürger der Nutzen Europas nicht mehr klar.

    Für viele der Nein-Sager in Frankreich und auch für manchen Kritiker in Deutschland ist die Europäische Union nicht ein Lösungsansatz, sondern Teil eines Problems. Die PDS-Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann:

    "Europa ist in Deutschland immer eine Art Eliteprojekt gewesen, der politischen und der wirtschaftlichen Eliten, und man hat vergessen, in Anführungsstrichen, die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen. Und diese Situation scheint mir für die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union symptomatisch."

    Die Verantwortlichen der europäischen Institutionen schauen recht hilflos zu, wie ihr Bild über die nationalen Hauptstädte verzerrt wird. Neben den eigenen Fehlern wie Regelungswahn, Bürokratismus und Machtmissbrauch sehen Europaparlamentarier und EU-Kommission als eigentliche europäische Kräfte vor allem im Verhalten der einzelnen nationalen Regierungen in den Mitgliedsstaaten ein Hauptproblem der europäischen Identitätskrise. EU-Kommissar Verheugen:

    "Die nationalen Politiker in allen Funktionen, auf allen Ebenen müssen lernen, dass auch sie eine europäische Verantwortung haben. Ich sage das allen meinen Besuchern aus Deutschland, seien sie Bundestagsabgeordnete, Landesminister, selbst Landräte und Bürgermeister, ich sage denen: Ihr habt alle auch eine europäische Verantwortung. Und wenn ihr euch nicht zu Europa bekennt, wenn ihr die Idee nicht verteidigt, wenn ihr zulasst, dass Europa "runtergemacht" wird mit Horrorgeschichten, was wir ja seit einiger Zeit ununterbrochen erleben, dann seid ihr schuldig daran, dass die Idee an Überzeugungskraft und an Glanz verliert."

    Schnell wird auf Brüssel geschimpft. Die EU und ihre Institutionen müssen als Sündenbock herhalten für das Scheitern nationalen Handelns. Viele Europapolitiker wundert es deswegen nicht, wenn der Bürger gar nicht mehr weiß, ob Europa ihm wirklich etwas bringt. Europaparlamentarier erleben die Skepsis der Menschen immer wieder in ihren Wahlkreisen. Die PDS-Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Sylvia-Yvonne Kaufmann, ist überzeugte Europäerin. Parteiübergreifend respektiert hat sie die komplizierte europäische Verfassung im Konvent mit ausgearbeitet. Zu Hause in Berlin brauchen die Menschen jedoch einfachere Formeln für Europa:

    "Na, ich sag zum Beispiel immer: Europa kommt aus der Wasserleitung. Also, wenn Sie wollen, dass Sie gesundes, richtiges Trinkwasser haben, dann hat das mit europäischer Politik zu tun. Wenn Sie als Tourist geschützte Rechte haben, wenn Sie in den Urlaub fliegen, gegenüber Fluggesellschaften, dann hat das mit Europa zu tun. Wenn es um Sicherheit von Kinderkleidung und viele andere Dinge mehr geht, die uns ja im Alltag wirklich permanent umgeben, vielen Leuten ist das gar nicht bewusst, dass dies mit Europa zu tun hat. Und wenn man diese Beispiele bringt, dann erzielt man ziemlich oft einen Aha-Effekt: "Tatsächlich, das ist Europa? Ja stimmt, ist eigentlich nicht schlecht.""

    So können auch Ängste vor Europa abgebaut werden. Gerade die Erweiterung der Europäischen Union von 15 auf 25 Mitglieder hat viele Menschen verunsichert. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, dem Niedergang heimischer Industrien oder auch die Scheu vor der Überfremdung überwiegen. Die eigentlichen Vorteile gehen unter. Für den CDU-Europaabgeordneten Elmar Brok muss sich hier einiges in der Wahrnehmung ändern, gerade beim Blick auf die zurückliegende Erweiterung der EU:

    "Beispielsweise einfach mal in Deutschland deutlich zu machen, dass wir ökonomisch davon Nutzen haben. Deutlich zu machen, dass Polen für uns nicht teuer ist, sondern dass wir daran verdienen, weil das ein neuer Markt für uns ist. Deutlich machen, dass wir Deutschen keine Außengrenzen mehr haben, die Kriegsgrenze sein könnten, wenn man sich das im Zuge der Geschichte Deutschlands anschaut, das heißt, solche Dinge, die dem Bürger letztlich wirklich wichtig sind, um auf diese Weise es wieder hinzubekommen, dass man vor lauter Bäumen doch noch den Wald sieht."

    Doch das Thema Erweiterung wird die Europäische Union in den nächsten Monaten und Jahren nicht loslassen. Mit Bulgarien und Rumänien stehen schon die nächsten beiden EU-Kandidaten mit einem Bein in der Tür. Kroatien könnte bald folgen. Aber die entscheidende Weichenstellung wird wohl der Umgang mit dem Kandidatenland Türkei sein. Demoskopen sehen bei den EU-Bürgern, etwa in Frankreich, in Polen aber auch in Deutschland eine klare Mehrheit gegen einen Beitritt des muslimischen 70-Millionen-Staates. Und im Europäischen Parlament warnen selbst erfahrene deutsche Sozialdemokraten vor einer Überdehnung der EU. Der frühere Parlamentspräsident Klaus Hänsch:

    "Wir können und dürfen uns nicht grenzenlos erweitern. Das würde die Auflösung der Geschlossenheit sein innerhalb der Europäischen Union. Man kann es auch anders ausdrücken: Es ist fast ein physikalisches Gesetz: Je größer die Union wird, desto weiter wird sie sich vom Bürger entfernen."

    25 Staaten mit 450 Millionen Bürgern - das ist schon jetzt eine Struktur, die an ihre Grenzen stößt. Die Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer Verfassung, die Schwerfälligkeit bei der Einigung auf effizientere Entscheidungsmechanismen im Ministerrat und zwischen den EU-Institutionen, die Unfähigkeit, in der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen - die EU ist am äußersten Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Die momentane Krise macht es deutlich.

    Gerade im Europäischen Parlament nehmen die Stimmen gegen einen EU-Beitritt der Türkei zu. Der deutsche Liberale Alexander Graf Lambsdorff, eigentlich ein Fan des britischen Premierministers Tony Blair, weicht in der Türkei-Frage deutlich von der erweiterungsfreundlichen britischen Position ab:

    "Die Türkei ist ein wichtiger NATO-Partner. Das soll sie bleiben. Wir wollen gute Beziehungen zur Türkei haben. Aber als Europapolitiker muss ich zuerst fragen: Was sind die Interessen der Europäischen Union? - und danach fragen: Was sind die Interessen der Türkei?"

    In der Identitätskrise der Europäischen Union scheint der Beitritt der Türkei für viele Bürger, aber auch für immer mehr Europapolitiker in die falsche Richtung zu führen. Die eigentlichen Herausforderungen für die EU liegen in den nächsten Jahren nämlich woanders. Europapolitiker Klaus Hänsch hält eine grundsätzliche Verlagerung des Schwerpunktes europäischer Politik für nötig:

    "Wir haben 40 Jahre lang Europa sozusagen nach innen vereinigt. Wir haben harmonisiert und gemeinsame Regeln gefunden. Wir haben uns um weitere europäische Staaten erweitert. Das alles war sozusagen auf Europa selbst konzentriert. In der neuen Welt, nach dem Zusammenbruch der Blöcke, nach dem Wachsen neuer Bedrohungen wird sich europäische Einigung stärker als bisher nach außen richten müssen. Das bedeutet: Die Europäer müssen lernen, in der Welt gemeinsam zu handeln, um ihre eigenen Interessen deutlicher als bisher zur Geltung zu bringen und sie auch durchzusetzen."

    Die Europäische Union muss sich in der globalisierten Welt zwischen den USA, China, Japan und Indien positionieren. Die Handelskonflikte wie jüngst im Textilstreit zwischen der EU und China werden zunehmen. Die Energieversorgung muss gesichert werden. Globale Umweltprobleme treten immer mehr in Erscheinung. Die Europäer müssen vor internationalem Terror genauso geschützt werden wie vor möglichen atomaren kriegerischen Bedrohungen durch andere Staaten. Nicht nur die europäischen Bürger erwarten das von der EU.

    Auch in der Welt, in Afrika, im vorderen Asien oder in Lateinamerika erhoffen sich viele Menschen eine Führungsrolle Europas - in Ergänzung oder als Alternative zum amerikanischen Gesellschaftsmodell. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament, der deutsche Christdemokrat Elmar Brok:

    "Nur gemeinsam sind wir stark, gegen Amerika unsere Position zu erläutern und dann gemeinsam den Westen in eine solche Politik hineinzubringen. Jeder einzelne Staat ist zu klein dazu. Oder kürzlich waren wir beim Jubiläum von Solidarnosc mit Lech Walesa zusammen, der sagte: Nur der Kontinent Europa
    ist stark genug, mit einem Land wie China zu handeln."

    Ein einheitliches Europa, um europäische Interessen in der Welt durchzusetzen. Nach der Schaffung von Frieden und Demokratie auf dem europäischen Kontinent, wird es die eigentliche Herausforderung der Europäischen Union sein, Einheit nach außen herzustellen. Denn die einzelnen EU-Staaten, Frankreich, Großbritannien, aber auch Deutschland, sind schon heute nicht mehr in der Lage, auf eigene Faust international erfolgreich zu handeln.

    Das kann nur noch Europa als Ganzes. Diese zukünftige Funktion der EU ist klar und verständlich. Für dieses gemeinsame Ziel kann Europa auch seine Bürger wieder zurückgewinnen. Ihnen muss deutlich gemacht werden dass sie nur dann eine Chance haben, in der Welt von morgen weiterhin als Europäer leben zu können, wenn sie es gemeinsam anpacken. EU-Kommissar Verheugen ist überzeugt, dass die Europäische Union ihren Zenit noch nicht überschritten hat:

    "Wir werden diese Krise auch überwinden, wie wir jede Krise überwunden haben und übrigens aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen sind. Es ist eine historische Notwendigkeit, dass Europa sich vereinigt, seine Interessen gemeinsam vertritt und die großen Aufgaben gemeinsam anpackt. Die Einzelstaaten sind dazu zu schwach."

    Nach Ansicht der meisten Europapolitiker ist die EU kein Auslaufmodell, sondern noch mitten in einer schwierigen Entwicklung hin zu innerer Geschlossenheit - eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Anstrengung, die sich lohnen könnte. Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber spricht in diesem Punkt vielen seiner Parlamentskollegen aus der Seele:

    "Die EU hat eine große Zukunft vor sich, wenn sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentriert. Das heißt: Vertretung nach außen, Sicherung des Friedens nach außen, Sicherung der inneren Sicherheit grenzüberschreitend und Schaffung eines wirtschaftlichen Umfeldes, das seine Stärken ausspielt. Und wenn das Europa tut, dann wird es das Erfolgsmodell des 21. Jahrhunderts."