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Späte Rehabilitation

Bis zu 600.000 neuinfizierte Leprakranke gibt es weltweit jedes Jahr. Die meisten Fälle in Indien und Brasilien. In Europa erreichte die Krankheit zwischen dem 6. und 13. Jahrhundert ihre größte Verbreitung, doch die sogenannte Krankheit der Armen gab es auf unserem Kontinent auch noch im letzten Jahrhundert. Anlässlich des Lepra-Gedenktags ein Blick von Keno Verseck nach Rumänien.

28.01.2008
    Gheorghe Simion kramt in einem Stapel ungerahmter Ölbilder und zeigt sie dem Stationsarzt. Der 69jährige Mann hat zweifellos das interessanteste Zimmer des Altersheims: ein buntes, unübersichtliches Maleratelier, auf dem Bett Farbtuben und Pinsel, mittendrin eine Staffelei.

    So ungewöhnlich wie Simions Zimmer ist auch das Altersheim selbst. Das Gebäude steht in Tichilesti, der letzten Leprakolonie Europas. Zwei Dutzend gesunde Rentner wohnen hier zusammen mit knapp zwei Dutzend alten Leprakranken. Ein einzigartiges Wohnprojekt - und doch für Gheorghe Simion längst nicht Ungewöhnliches mehr.

    "Nur wer nicht bescheid weiß, hat Vorurteile. So war es auch bei mir. Ich dachte, Lepra sei etwas sehr Gefährliches, und man könne sich anstecken. Erst, nachdem ich hergekommen war, hat sich mein Bild geändert. Ja, manche der Kranken können nicht richtig gehen, andere haben kaputte Finger, aber ansonsten sind sie genau wie wir auch."

    Tichilesti in Südostrumänien am Rande des Donaudeltas. Die Kolonie liegt weit abseits der Landstraße in einem kleinen Tal - ein gutes Versteck am Ende einer Sackgasse. Das sollte es auch sein, als die Kolonie nach dem ersten Weltkrieg eingerichtet wurde. Ein Versteck blieb sie bis zum Sturz des Diktators Ceausescu 1989. Im kommunistischen Rumänien durfte es keine Lepra geben, also existierten die Kranken von Tichilesti offiziell nicht. Erst seit 1989 ist die Kolonie öffentlich zugänglich.

    Die meisten Leprakranken sind über siebzig Jahre alt, fast alle kamen bereits im Kindes- oder Jugendalter her. Sie tragen den Leprabazillus längst nicht mehr in sich, leiden aber an den Spätfolgen der Krankheit wie Blindheit oder Verstümmelungen und sind deshalb fast alle stark pflegebedürftig. Dass sie unter menschenwürdigen Bedingungen leben, ist vor allem dem Arzt Razvan Vasiliu zu verdanken, der hier seit anderthalb Jahrzehnten arbeitet. Die Idee des 50jährigen war es auch, in Tichilesti in einem leerstehenden Gebäude ein Altersheim einzurichten. Seit 2005 wurde das Projekt Stück für Stück Wirklichkeit.

    " Ich hatte schon lange den Wunsch, diesen Ort wieder dem normalen Leben zu öffnen. Das Projekt eines Altersheims schien anfangs eine Utopie, wenn man bedenkt, wie groß die Vorurteile gegen Leprakranke sind. Lepra wird als Strafe Gottes angesehen, man ist Aussätziger. Diese Mentalität ist nicht nur bei den einfachen Leuten verbreitet, sondern auch in den Behörden. Als wir bei ihnen um finanzielle und andere Hilfe für unser Projekt ersucht haben, mussten wir diese Mentalität erst einmal überwinden."

    Der Maler Gheorghe Simion besucht seinen Freund, den leprakranken Grischa Grigorov. "Immer reinspaziert, Herr Leonardo da Vinci", bittet Grigorov ihn ironisch in sein Zimmer. Der 43jährige ist der Jüngste unter den Leprakranken. Er stammt aus dem Donaudelta und kam im Alter von 13 Jahren nach Tichilesti, kurz nachdem bei ihm Lepra festgestellt worden war. Mit 17 Jahren wurde er als entlassungsfähig eingestuft und durfte zurück zu seinen Eltern. Weil er später anfing zu trinken, verschlimmerte sich sein Zustand wieder, Finger und Zehen verstümmelten. Mit 27 kam Grigorov erneut nach Tichilesti und hat die Kolonie seitdem nicht mehr verlassen.

    " Es ist sehr gut, dass die alten Leute hier sind. Das ändert das Bild, was man draußen von uns hat, dieses Naserümpfen über die Aussätzigen von Tichilesti. Jetzt kommen viel mehr Leute her, um ihre Verwandten zu besuchen, und sie sehen, dass wir hier ganz normal leben. Sie sehen, dass wir unser Essen nicht auf einer Schippe durchs Gitter gereicht bekommen, dass wir nicht hinter Stacheldraht wohnen und dass wir niemanden anstecken. Ja, es gibt einige, bei denen die Lepra schlimme Spuren hinterlassen hat, aber an Lepra selbst ist schon lange keiner mehr gestorben."